Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
conclusio: Liebe als tröstender Akt
Die Didaxe hebt an mit der oben beschriebenen musikalischen Veränderung: Die Melodiebögen werden kürzer, Sequenzen erscheinen, stoßhafte Vor-Zurück-Bewegungen. Das musikalische Geschehen steigert sich, wird atemloser, die Tonlage wird höher, ein sichtliches Zeichen von Erregung. Auffällig, wie gesagt, die Ermunterungen am Beginn des Mittelteils. Herrschte in den ersten beiden Strophen noch Trauer, Schmerz und wehmütige Erinnerung, so kennt schon die letzte Zeile der zweiten Strophe Ermunterung: Weine nicht! Schon hier wird etwas Neues vorbereitet.
Die Didaxe führt musikalisch auf den Höhepunkt zu. In dem Augenblick, wo Thema und Rechtfertigung ausgesprochen werden, endet das Stoßen und Ansteigen abrupt, und ein sehr langer, sehr hoher Ton ist zu hören, auf dem das Lied quasi verweilt bzw. in dem das Lied für eine Weile wie gefangen ist. Es will diesen Ton nicht verlassen, es ist, als wolle es ihn so lang wie möglich auskosten. Zeitgleich mit der Nennung des eigentlichen Themas Liebe kommt musikalisch die physische Demonstration von Liebe. Thema, Rechtfertigung und Demonstration in einem. Bei der Liebe wird hier gezeigt, was Liebe ist und was sie sein kann, exakt in dem lang anhaltenden höchsten Ton wird es gezeigt, der, wie gesagt, auf den vorherigen rhythmischen Bewegungen basiert, die sich zu ihm hin gesteigert haben. Die Liebe verschafft im Mittelteil des Liedes eine offenbar totale Befriedigung, denn anschließend kehrt wieder Ruhe ein, das Lied fällt musikalisch auf seinen Anfang zurück und verebbt dann insgesamt, als hätte es alle Kraft verloren. Auf den letzten Tönen ruht das Lied gleichsam schon bewegungslos.
Bemerkenswert, dass nach dem Höhepunkt der Text eigentlich nur noch einen Inhalt kennt: die Bewertung des eben erfolgten Geschehens. Unmittelbar nach dem Höhepunkt, gleichsam noch in seinem Abgang, heißt es zunächst: Die Liebe allein / Nur sie kann so sein. Es war ja eben im Lied selbst höhepunktsmäßig markiert worden, was Liebe sein kann, nämlich die Erfüllung des Akts (Anschwellen, rhythmische Bewegung, Höhepunkt, Abschwellen). Gleichsam nachkostend kann der Sprecher am Ende des Liedes kaum mehr etwas anderes von sich geben als ein andauernd wiederholtes: so schön / so schön / so schön, was grammatisch auf unsere Liebe bezogen ist. Dieses Wort unsere Liebe changiert jetzt also. Meinte es in der ersten Strophe vermeintlich noch unsere Beziehung/unseren Verbund, so meint es jetzt, nach vollzogenem Höhepunkt, natürlich vor allem diesen selbst. In einem kolloquialeren Sinn würde dieses zum Ende hin wie am Rande der Bewusstlosigkeit wiederholte so schön / so schön / so schön in etwa so heißen: Mann, das war gut. Anschließend bricht die Ermüdung endgültig durch (post coitum fatigatio).
In der Didaxe wird also selbst demonstriert, was Liebe kann. Sie besteht hier, in Merci Chérie, aus Theorie und Praxis zugleich. Indem der Liebesakt vollzogen und zum Höhepunkt geführt wird, demonstriert der Verlassende sozusagen noch einmal abschließend, worum es eigentlich geht bzw. ging, und er demonstriert es auf offenbar überzeugende Weise. Er scheint damit die zu verlassende Chérie zu überzeugen, vielleicht auch für den Augenblick selbst so zu befrieden bzw. befriedigen, dass die Diskussion nun ruht, weil allgemeines Erschlaffen herrscht. Die eigentliche Rechtfertigung ist hier also physischer Natur: Chérie wird weniger theoretisch überzeugt als vielmehr physisch (durch Demonstration des Gegenstandes) überwältigt wie von einer Naturmacht selbst. Die personalen Anwürfe scheinen zu verstummen, und der Sprecher hat Chérie gezeigt und anschaulich gemacht, was es heißt, dass die Liebe wilder als das Meer ist. Es bedarf nun keiner Rechtfertigung mehr, und der Trost ist gespendet. Er ist also physischer Art.
Das sang Udo Jürgens im Jahr 1966 beim Grand Prix d’Eurovision de la Chanson. Er sang von einem Mann (wir setzen das Geschlecht voraus, es ist nicht gesagt, wird aber aus dem Mittelteil heraus klar), der eine (wohl) Frau verlässt, und um die Situation zu überstehen und die Frau die Situation überstehen zu lassen, vögelt er sie bis zum Höhepunkt vor unseren Ohren und bläst sie und sich gleichsam weg. Anschließend geht er und markiert dabei den treuen Soldaten seines Generals, der da heißt: Liebe. Chérie bleibt abgevögelt auf dem Bett zurück, während er neuen Abenteuern entgegenzieht.
Das ist eine vergleichsweise große Chuzpe und durfte natürlich nicht so klar gesagt werden. Deshalb wird ein Großteil der Erzählung in die Musik gelegt. Während er, auf ihr (Chérie), seine Didaxe herunterleiert, erfolgen weiter unten die rhythmischen Bewegungen. Den Franzosen traut man so etwas ja immer zu, die kennen ja die Liebe, l’amour. Der Deutsche kennt so etwas eigentlich nicht, es gehört nicht zur Volkskultur. Bei uns kann man nur ficken oder vögeln sagen, oder Beischlaf oder miteinander schlafen. Bei den Franzosen gehört aber der Akt zur allgemeinen Kommunikationsstruktur. Glauben wir. Das ist das gängige Franzosenklischee. Deshalb war es naheliegend, dem Lied ein französisches Kolorit zu geben, um es, sit venia verbo, zu entschärfen. Anzügliches Geschehen verlegt der Deutsche gern ins Exotische, und seien es auch bloß bayrische Almhütten. Im Deutschen hätte das Lied heißen müssen: Danke, mein Schatz. Wir ahnen, was daraus für ein Lied geworden wäre.
Mit diesem Lied erlangte Udo Jürgens seine öffentliche Rolle, und von diesem Lied ausgehend wurde, mehr oder minder unbewusst, anschließend seine öffentliche Person erzählt. Er galt als erfolgreich, aber untreu. Das ging bis zu seinem Ende so. Im Grunde, wie hier gezeigt, war am Anfang schon alles gesagt, aber eben mit einer Eleganz und einem Esprit, der die französische Ansprache geradezu erforderte. Was all die kleinen deutschen Schlager ständig aussprechen müssen, um dabei doch immer nur im Wortlaut steckenzubleiben (Ich wünsch mir, ich wäre heute Nacht bei dir etc., etc.), und worüber auch Helene Fischer in ihren Liedern nicht hinauskommt (»atemlos, schwindelfrei«), hat Udo Jürgens, schlank, schlicht, dezent, elegant, scheinbar timid und wie ein netter Enkelsohn, aber in Wahrheit cäsarenhaft vor aller Öffentlichkeit gleichsam physisch in unser aller Ohren vollzogen, und wir mit ihm. Er hat es getan, er hat es gesungen: Der Mann verlässt die Frau, sie kümmert ihn in Wahrheit einen Scheißdreck, und er nimmt die Gelegenheit war, noch einmal kräftig Spaß mit ihr zu haben, und dann hält sie wenigstens auch ihr Maul. (Das Lied könnte also auch heißen: Halt‘s Maul, Chérie.)
Es ist völlig klar, dass, wenn man in die Tiefen dieses Liedes hinabgestiegen ist, die Helene-Fischer-Version zu Udo Jürgens‘ achtzigstem Geburtstag in die falsche Richtung ging. Ich hatte schon während ihres Auftritts das Gefühl, dass die Frau nicht wirklich wusste, wovon sie da eigentlich sang.