Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Neulich sprach ich mit jemandem über Merci Chérie, und mir wurde wieder klar, dass die Menschen zwar einen allgemeinen, oberflächlichen Eindruck von diesem Lied haben, aber keine wirkliche Vorstellung, worum es in dem Lied eigentlich geht. Sie sagen, es sei ein Liebeslied. Das stimmt, darin haben alle recht. Es handelt von Liebe.
Die Liebe unterteilt sich bekanntlich in Vorspiel und Hauptakt. Aus gegebenem Anlass wollen wir die Kolumne dann auch so unterteilen.
Vorspiel
Viele haben Helene Fischer dieses Lied singen hören, beim 80. Geburtstag von Udo Jürgens. Manche halten das für die ultimative Version des Liedes, andere wiederum lehnen sie ab. Letztere mögen die Version hauptsächlich deshalb nicht, weil sie eine Art Hochleistungssport-Variante von Merci Chérie darstellt. Allerdings ist vermutlich auch genau das der unausgesprochene Grund der Gruppe eins, also der Helene-Fischer-Favorisierenden, diese Version zu mögen. Sie fliegt einem sozusagen um die Ohren. Auch Udo Jürgens war hingerissen von dieser Version. Man konnte während der Show zu seinem 80. Geburtstag erkennen, dass er ziemlich verknallt war in Helene Fischer.
Also ein analytisches Vorspiel mit Helene Fischer:
Das zentrale Wort des Liedes Merci Chérie heißt Liebe. Das Wort beziehungsweise der Moment, in dem es gesungen wird, ist der Höhepunkt des Liedes, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Zunächst: Es ist der Gipfel der Komposition, markiert dadurch, dass mit dem Wort die höchste Note gesungen wird. Wenn man eine Melodie als rhetorisches Konstrukt versteht, so ist ihr höchster Ton oft jener Moment, zu dem die Komposition hindrängt, er ist ihr Zielpunkt. Man kann die musikalische Höhepunkts-Rhetorik von Merci Chérie an vielen Details festmachen.
Ganz grundsätzlich gesagt, folgt das Lied nicht dem üblichen Schema von Strophe und Refrain. Ein Strophe-Refrain-Lied besteht immer aus mehreren Höhepunkten. Etwa bei dem inzwischen sogar bei Noel Gallagher bekannten Atemlos durch die Nacht finden sich in der besagten atemlosen Nacht in der Studioversion gleich zehn Höhepunkte (davon der achte instrumental). Dazu kommt bei Atemlos durch die Nacht noch die berüchtigte Bridge, die mit dem Refrain um den Höhepunkt streitet, sie kommt sechsmal. Das Lied besteht also gleichsam aus einer atemlosen Aneinanderreihung von Höhepunkten und macht damit auf seine Weise anschaulich, was das Lied zum tieferen Inhalt hat und weshalb es sich in concreto eher für jüngere Menschen eignet. (Dazu die eindeutigen Handbewegungen, die der Tänzer links neben der Sängerin in Hüfthöhe bei 0:54 im offiziellen Video macht.)
Merci Chérie hat nur einen Höhepunkt. Es gibt keinen Refrain. Das Lied beginnt tief, die Melodie steigt empor, zwei Strophen werden durchgeführt. Dann, kurz vor dem besagten Wort Liebe, verdichtet sich die Melodieführung zu einer Sequenz:
Schau nach vorn / Nicht Zurück //
Zwingen kann man / Kein Glück //
Die vorliegende Sequenz ist ansteigend, d.h., die Melodie wird beim zweiten Erscheinen (beginnend mit der Silbe Zwi-) um einen Ton höher gesungen als beim ersten (beginnend mit Schau).
Schauen wir in die Mikrostruktur hinein, um zu begreifen, was wir da hören:
Die Melodie selbst besteht aus sechs Tönen (Schau / nach / vorn // nicht / zu- / rück). Sie ist in der ersten Hälfte ansteigend (Schau / nach / vorn), in der zweiten fällt sie auf den Anfangston zurück (nicht / zu- / rück). Der höchste und eigentlich sinntragende Ton ist immer der dritte, er fällt auf den Taktbeginn, also die schwere Zählzeit. Die beiden Töne davor fungieren als Auftakt. Die Melodie ist ähnlich einem Atmungsvorgang gebaut, die ersten drei Töne geben das Einatmen wieder, die hinteren drei das Ausatmen.
Einatmen: Ausatmen:
Schau nach vorn nicht zurück
Zwingen kann man kein Glück
Der zweite Atmungsvorgang ist gegenüber dem ersten intensiver, weil tonal höher. Das Atemtempo ist noch relativ langsam und wird erst im Folgenden doppelt so schnell werden.
Unmittelbar vor dem Wort Liebe geschieht die entscheidende Steigerung. Zunächst ist nur noch das erste Glied des Sequenzmotivs im Spiel, die drei aufsteigenden Töne:
Denn kein Meer (entsprechend zu: Schau nach vorn / Zwingen kann)
Es folgen daraufhin wiederum drei wie in einer Sequenz höher gesetzte Töne:
Ist so wild
Aber aufgepasst, Ist so wild ist von seiner Struktur komplizierter als Denn kein Meer! Bei Denn kein Meer steigen drei Töne hintereinander an, ein sehr druckvolles Motiv (Einatmen). Bei Ist so wild fällt, wie bei einem nun viel kürzeren Atmen, die Melodieführung zunächst ab, um dann, fast wie bei einer Schnappatmung, am Ende sprunghaft anzusteigen. Die Geschwindigkeit des Atmens hat sich somit verdoppelt: Es wird innerhalb von drei Tönen aus- und eingeatmet. Das Motiv selbst wird auf die höhere Tonstufe sequenziert, es schwillt also immer höher und erreicht den höchsten Ton des Liedes:
Wie die Lie- be
Alles ist hier, und darauf wollte ich hinaus, auf organische Steigerung und schlussendlichen Höhepunkt angelegt. Wir hören vor dem Wort Liebe insgesamt fünf kontinuierliche Steigerungen:
Aufsteigend: (Abfallend:)
Stufe 1: vorn -rück
Stufe 2: kann Glück
Stufe 3: Meer
Stufe 4: wild
Stufe 5: Lie-
Das eigentliche Gerüst der melodischen Kette sind diese stets ansteigenden fünf Töne auf die schweren Zählzeiten: vorn / kann / Meer / wild / Lie-, wobei das Tempo, wie gesehen, ab der dritten Stufe verdoppelt wird. Es geht also immer schneller immer höher zu, und der Höhepunkt dieses Melodieblocks ist zugleich der Höhepunkt des ganzen Liedes: Lie – be.
Nach dem Höhepunkt ebbt das Lied ab, verliert zusehends an Kraft, kurz gesagt, es funktioniert von seiner musikalischen Grundstruktur genau wie das Lohengrin-Vorspiel Richard Wagners, das ja für diesen Effekt berühmt-berüchtigt ist. Wagners Vorspiel beginnt ebenso verhalten, wallt auf, wallt höher, wallt noch immer höher, dann gibt es eine ganz gewaltige Entladung, Wagners überhaupt gewaltigste Entladung jemals, und dann sinkt es hernieder, verliert immer mehr an Kraft und ruht schließlich wieder. Ich kenne nicht wenige Leute, die bei der Entladung stets einen Lachkrampf bekommen. Hat nicht Monty Pythons dieses Vorspiel mal mit steigenden und fallenden Industrieschornsteinen illustriert? (Oder war das Tristan und Isolde?)
Den Gipfel singt Helene Fischer mit der ganzen Wucht ihrer Bravourtechnik, als gelte es, wie bei einer Opernarie den ganzen Saal außer Rand und Band zu bringen. Udo Jürgens war da dezenter, und das aus guten Gründen. Wir werden sehen, dass das, was das Lied uns erzählt, ziemlich komplex ist. Helene Fischer hat das Lied nicht nur seiner eigentlichen Dimension beraubt, sondern sie hat den Charakter des Liedes auch dadurch verwandelt, dass sie es als Frau singt.
Exkurs: Neulich war ich in den Drei Steubern, meiner Frankfurter Apfelweinwirtschaft, und dort fand das oben erwähnte Gespräch statt. Ich sprach mit Udo (er heißt zufällig auch so) über Merci Chérie. Udo mag Udo Jürgens seit langen Jahren und hatte meinen Konzertbericht letztes Jahr in der Zeitung gelesen. Udo kennt Merci Chérie seit Jahrzehnten, aber er war an diesem Abend in den Drei Steubern nicht von seiner Meinung abzubringen, das Lied handle von einer Frau, die einen Mann verlässt, und der Mann dankt ihr für die Zeit, die sie gemeinsam erlebt haben. Er sagte sogar, die Helene-Fischer-Version passe genau deshalb besser, weil es ja in dem Lied um eine Frau gehe.
Ich weiß, die Widerlegung ist einfach und geschieht schon durch den aus der Mann-Perspektive gesungenen Satz: Sei nicht traurig / Muss ich auch von dir gehen. Man sollte aber festhalten, dass hin und wieder bei manchen der besagte Eindruck besteht, die Frau sei hier die verlassende Kraft. Ich glaube, dass liegt schlicht und ergreifend daran, dass man dem charmanten, dezenten Udo Jürgens (der ja im Vergleich zu Helene Fischer auch relativ dezent über jenen Höhepunkt hinwegsang im Jahr 66) nicht zutraut, was er da in diesem Lied so treibt. Ich glaube, wie gesagt, man hat bis heute nicht recht begriffen, was man da vor sich hat, wenn man Udo Jürgens 1966 beim Grand Prix d’Eurovision sieht und hört. Festzuhalten ist also zunächst: Hier geht ein Mann und verlässt eine Frau. Zunächst und in seinem Fundament liegt dem Lied das absolute Männerklischee zugrunde: »Er« verlässt »sie« – er lässt sie sitzen.
Hauptakt
Festzuhalten ist ebenfalls: Berichtet wird aus der Perspektive des aktiv Verlassenden. Das ist eher ungewöhnlich, normalerweise wird aus der Perspektive des oder der Verlassenen erzählt, und das aus guten Gründen.
Wer verlässt, muss rechtfertigen. Wer verlassen wird, darf klagen. Der Erste muss Gründe liefern, eine Rhetorik aufbauen, muss die Trennung moderieren (wenn er denn will), muss dem Verlassenen sozusagen Arzt sein für die Schmerzen, die er ihm zufügt etc. Der Verlassene dagegen braucht all das nicht, er liegt einfach molluskenhaft herum und kann Schmerz-, Klage und Anschuldigungstopoi aufrufen, wie sie seit ewigen Zeiten tradiert sind. Aber er muss per se keine rhetorische Struktur aufbauen – und hat es deshalb weitaus einfacher. Daher wird gern Typus 2 vorgezogen, also das Lied aus der Perspektive des Verlassenen.
Merci Chérie aber ist das Lied eines Gehenden. Anzeichen und Kontextualisierungen des Weggehens, Abschiednehmens finden sich von Beginn an in vielerlei Hinsicht. Schauen wir nun also näher auf die Erzählweise des Liedes und darauf, wie sein rhetorischer Verlauf Schritt für Schritt aufgebaut ist.
Die Klavierarpeggien am Anfang des Liedes setzen, bevor man überhaupt weiß, was auf einen zukommt, Assoziationen an romantisches Liedgut frei. Hört man diese Arpeggien, gerät man sofort in eine Stimmungsgemengelage, die sich irgendwo zwischen Schubert, Schumann und bis hin zu Brahms oder Reger abspielt. Man erwartet zunächst ein romantisches Kunstlied.
Dann passiert etwas Unerwartetes. Ein französisches Wort ist zu hören. Da redet jemand französisch, und zwar offenbar zu jemand anderem. Er bedankt sich: Merci. Einige Sekunden muss der Ersthörer denken, es handle sich um ein französisches Lied.
Zeitgleich mit dem Wort setzt erstmals das musikalische Motiv des Gehens ein: die militärische Trommel im Hintergrund. Getrommelt wird normalerweise beim Marschieren. Beim Marschieren herrscht Disziplin, Emotionen haben keinen Platz, der Truppenauf- oder –abmarsch muss geordnet über die Bühne gehen. Entschlossenheit, Tatkraft, Vorsatz. Man könnte also im ersten Augenblick den Eindruck bekommen, ein Franzose bedanke sich in diesem Lied für etwas, und im Hintergrund trommelt die Trommel zum Aufbruch, er muss also gleich zum Militär, weil es ins Feld geht oder wenigstens zum Appell. Weil man durch die Arpeggien romantisch gestimmt ist, fühlt man sich durch die ersten getrommelten Takte im klanglichen Kosmos Gustav Mahlers angekommen. Es kommt etwas Abgründiges ins Lied.
Nun aber die ersten deutschen Worte: Für die Stunden, Chérie. Ab jetzt ist ein Thema vorgegeben: Liebe und Beziehung in irgendeiner Form. Wenn sich jemand für die Stunden bedankt und im Hintergrund die Trommeln zum Aufbruch rühren, dann klingt das unweigerlich nach Abschied. Was zwingt ihn zum Abschied? Warum die Trennung? Es singt ein Mann, die Trommeln müssen also auf ihn bezogen sein. Er wird gerufen. Von wem oder was? Der nächste Satz bringt keine weitere Erklärung, aber gewisse Hinweise: Unsere Liebe war schön.
Die Liebe war gemeinsam (unsere), sie war schön (offenbar ist das Konsens zwischen den beiden), aber sie ist jetzt offenbar vorbei (war). Wer oder was hat sie beendet? Einer der beiden Protagonisten oder ein äußerer Umstand (die Militärtrommel im Hintergrund)? Es folgt eine Ermunterung (Sei nicht traurig) und anschließend ein Satz, der von seiner Wortstellung wieder an klassisch-romantisches Lied- und Volksliedgut erinnert: Muss ich auch von dir gehen. In der zeitgenössischen Sprache von 1966 müsste der Satz wohl eher lauten: Auch wenn ich von dir gehen muss.
Damit ist das Gehen/Abschieds-Motiv ausgesprochen. Er verlässt seinen Schatz (der hier französisch Chérie heißt). Und er verlässt Chérie auf Deutsch.
Mit Sei nicht traurig / Muss ich auch von Dir gehen kommt also die bekannte romantische Wandererthematik explizit ins Spiel, die ja bis heute und unter anderem bis zu Hannes Wader überdauert hat. Bei Hannes Wader etwa kommt in zwei seiner wichtigsten Lieder an entscheidenden Stellen genau das gleiche Muss vor, einmal in Heute hier morgen dort (Bin kaum da / muss ich fort). In diesem Lied erhält das Muss keine weitere Begründung, es ist einfach so, es steht axiomatisch da, der Wanderer muss stets weiterziehen. Das andere Wader-Lied heißt Nun muss ich gehen. Dieses letztere Lied ist deutsche Wandererthematik gepaart mit post-68er Beziehungsdiskussion: »Nun muss ich gehn / Doch lange und schwer / Ein Jahr und mehr / Hab ich mich um unsere Liebe gesorgt / Nun ist sie verdorrt.«
In der altertümlichen Wortstellung bei Udo Jürgens (die seltsame Formulierung steht im Lied wie ein hineingeschnittenes Versatzstück vergangener Sprache) ist also neben der expliziten Erwähnung des Gehens jene romantisch gestimmte Wanderer-Attitüde durch den Schubert-etc.-Anklang auch atmosphärisch durch die Satzstellung mitgegeben. Die schöne Müllerin, die Winterreise, all das ist konnotiert.
Die zweite Strophe nun markiert den Übergang von der Danksagung für Erlebtes (Merci) zum Abschied (Adieu). Zugleich beginnt hier der Sprecher mit seiner Rechtfertigungsrhetorik, die er allerdings weitestgehend camoufliert: Unser Traum fliegt dahin. Diese Wendung ist tatsächlich reine Rhetorik: Sie suggeriert einen Konsens unter beiden, Sänger und Chérie, (der Traum ist unser Traum), aber selbst wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass beide, ebenfalls im Konsens, den Traum zeitgleich beendet haben, ist immer noch zu konstatieren, dass nur der eine die Weggeh-Bewegung macht und die andere darüber hinweggetröstet werden muss. Da ist dann kein Konsens von wegen »unser Traum« mehr vorhanden. Das Wort unser Traum scheint mir an dieser Stelle nicht ganz fair ausgesprochen. Etwas Beidseitiges wird von einer Seite verlassen. Da der Sprecher den Traum offenbar von sich aus aufgegeben hat, könnte er ja auch so etwas sagen wie: Unser Traum ist jetzt nur noch dein Traum. Aber, wie wir sehen werden, geht es dem Sprecher nicht um Tröstung im Sinne einer rationalen Ansprache. Es geht um etwas ganz anderes. Wir haben das Lied bis hin zu dieser Stelle eigentlich noch gar nicht erfasst.
Zusammenfassung bis hier: A verlässt französisch genanntes B, Gründe wissen wir noch nicht, aber wir haben eine Kontextualisierung, die irgendwo zwischen romantischem Wanderermotiv und der Welt militärischer Order changiert, und in der Mitte passiert eine ganz gewaltige Entladung.
Fortsetzung folgt.