Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Neulich dachte ich über das Problem der Vollständigkeit nach. Als Kind war ich noch wesentlich autistischer als heute und sehr ordnungsliebend. Vollständigkeitswahn entwickelte ich aber anfänglich nicht. Ich weiß noch sehr genau, dass ich z.B. nie meine Legosteine zählte. Sie lagen einfach ungeordnet in einer Schublade und durften sogar von meinem Bruder benutzt werden. Mein Bruder und ich bauten Türme, Wild-West-Forts, Raketenbasen, meine Schwester zerstörte alles wieder, wir bauten wieder auf, die Kindheit war eher kreisförmig als linear, ähnlich wie die Weltwirtschaft. Wachstum und Zerstörung im ewigen Wechsel.
Zum ersten Mal wurde Vollständigkeit wichtig durch Asterix. Es kam die Zeit, da konnte und wollte ich ohne Asterix nicht mehr leben, da war ich gerade in die Grundschule gekommen. Ich habe durch Asterix lesen gelernt, Thomas Mann und Dostojewski kamen erst viel später, ich war als Kind auch kein Anhänger der Suhrkamp-Kultur. Ich komme aus anderen Regionen.
Asterix: Ich musste alle haben. Stand nicht auf den Asterix-Heften hinten sogar immer drauf »Man muss sie einfach alle haben!«? Ich hatte als kleines Kind ein Köfferchen, orange-weiß bedruckt mit orangefarbenen Kanten, da haben die Hefte genau reingepasst, und auf Reisen (ich habe als Kind Reisen gehasst) musste ich das Köfferchen mit den Asterix-Heften geradezu an mich klammern und mich beruhigen, indem ich Asterix las. Vollständigkeit bei Asterix hieß: bis Band 26.
Später gab es andere Vollständigkeitszwänge. Ich musste zum Beispiel die Beatles vollständig haben. Da war ich zwölf und John Lennon noch gar nicht tot. Als John Lennon starb (er wurde halb so alt wie Udo Jürgens), saß ich abends zur HR-Sondersendung in meinem Kinderzimmer, zwei Stunden dauerte die Sendung, möglicherweise von Werner Reinke moderiert. Oder war es WDR 2, Mal Sondock? Ich weiß noch, wie eine Spinne (wie ich sie nie mehr gesehen habe) an der Wand hinter der Heizung hervorkroch. Sie war ganz dünn, filigran, eigentlich auch nicht groß, also eigentlich wie John Lennon, aber sie hatte an einer Stelle ihres Körpers eine riesige Blase, so groß wie ein Golfball. Ich nahm meinen Schlappen, also meinen hessischen Hausschuh, und tötete sie. Es spritzte unglaublich. Es spritzte in alle Richtungen. Der Fleck an meiner Wand war mindestens dreißig Zentimeter groß. Das war mein ekelhaftestes Spinnenerlebnis. Am Tag, als John Lennon erschossen wurde.
Mein Bruder las Perry Rhodan. Auch das war auf Vollständigkeit angelegt. Damals waren sie etwa bei Heft 1000. Heft 1000 erschien eineinhalb Monate, bevor John Lennon erschossen wurde. Zwei Wochen vor dem Erscheinen war Lennon 40 Jahre alt geworden. Udo Jürgens war zu diesem Zeitpunkt bereits 46 Jahre alt. Spock 48. Heute sind sie bei Perry Rhodan bei Heft 2807. Kann man mal ausrechen: Wer also PR von Anfang an auf Vollständigkeit gelesen hat, hat bislang (2807 mal 64) schlappe 179 648 Seiten Perry Rhodan gelesen. Solche Leute gibt es!
Später musste ich Thomas Mann vollständig haben. Meine Schallplatten gab ich irgendwann alle weg. Ich dachte, ich würde jetzt nur noch klassische Musik hören. Das ging auch tatsächlich ein paar Jahre so. Jetzt habe ich wieder alle Beatles-Alben. Man kauft nur zweimal.
Das Suhrkamp-Archiv! Es war auch auf Prinzip Vollständigkeit angelegt. Im Suhrkamp-Archiv wurde einfach alles gesammelt, und nicht nur die Manuskripte und Entwürfe der Autoren, sondern der Verlag hatte sich da unten im Keller auch komplett selbst gesammelt, d.h. jede Werbung, jedes Plakat, jeden Flyer, jeden Leporello, Jahr für Jahr. Der Verlag hätte jedes Jahr seiner Existenz, jedes Frühjahrs- und jedes Herbstprogramm in allen Details und Aktionen jederzeit wieder auferstehen lassen können. Keine Fan-Sammlung hätte vollständiger sein können als das Suhrkamp-Archiv – bis zum Verkauf des Archivs nach Marbach. Als die Marbacher kamen, war ich zufällig unten im Keller und sah unter anderem Rilke und Frisch, die Originale. Irgendwie folgerichtig, dass ich in diesem Verlag gelandet bin. Der Verlag hat immer alles bewahrt und damit das gemacht, was ich auch immer als Einziges in meinem Leben wollte: immer alles bewahren.
Im Wendland, genauer gesagt in Lüchow, saß ich letztes Jahr öfter bei Ulli Schröder an der Theke und trank Guinness. Ulli Schröder ist bekannt, denn er betreibt ein Stones-Museum. Es gibt eine weltweite Stones-Börse. Überall wird verkauft, getauscht, gehandelt, und die Leute wissen beängstigend gut Bescheid noch über das entlegenste ehemalige Konzert-Plakat. Ich weiß nicht, ob irgendwo ein Mensch auf der Welt eine solche Udo-Jürgens-Sammlung hat. Ich habe allerdings, als ich neulich versucht habe, mir wieder einmal eine Udo-Jürgens-Platte zu kaufen, gemerkt, dass man sich bei Udo Jürgens kaum einen Überblick über das Werk verschaffen kann. Es ist zwar einigermaßen zu rekonstruieren, wann wo welche Platte und, später, CD herausgekommen ist, aber allein die Anzahl der Liveplatten ist völlig unüberschaubar, und es gibt auch keine Szene, in der man etwa an Fachleute geraten könnte, die sich in Udo Jürgens eingearbeitet hätten unter dem Prinzip Vollständigkeit. Ich kenne zumindest keine solche Szene. Man findet das alles auch nur noch, zumindest zum größten Teil, in den Secondhand-Läden. Das müssen um die hundert Platten sein, die da im Umlauf sind. Dazu die unzähligen Anthologien. Ich finde es tausendmal leichter, mir etwa bei den Beatles einen Überblick zu verschaffen, vor allem, weil es da ja schon lange eine Kanonisierung gibt. Für einen Vollständigkeitsautisten wie mich ist Udo Jürgens eine absolute Qual. Im Grunde bin ich bei ihm auf das angewiesen, was ich schon immer gehasst habe und was mich schon als Kind so verunsichert hat: auf den Zufall.
Ich stelle mir vor, ich ginge auf Reisen und hätte, wie früher die kompletten Asterix-Bände bis Heft 26 in meinem Köfferchen, nun den kompletten Udo Jürgens dabei. Ich bräuchte vermutlich einen Hänger. Und so stehe ich da, nackt und bloß, ungeschützt, und kann nach Udo Jürgens immer nur heischen wie nach dem besagten Zufall. In jedem Udo-Jürgens-Platten-Kauf ist vor allem eins enthalten: Die Unmöglichkeit von Vollständigkeit.