Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Neulich habe ich mir einen Plattenspieler gekauft. Mein erster seit zwanzig Jahren. Ich liege damit voll im Trend. Ich habe mir auch einen Röhrenverstärker gekauft. Ich gehöre jetzt zur Generation derer, die sich noch mal ein Rennrad kaufen und dann auch noch einmal den besseren Verstärker, den man sich schon immer gewünscht hat. Denn jetzt kann man es sich leisten, und es geht sowieso langsam auf das Ende zu.
Schön ist und wie ein warmes Hinübergrüßen aus alten Zeiten, in einen der unzähligen Secondhand-Vinylshops zu gehen, die jetzt überall existieren. Denn die Crux oder auch der Vorteil der »physisch präsenten« Dinge ist, dass sie irgendwo hin müssen, deshalb gibt es jetzt bei Büchern und Langspielplatten diesen riesigen Umlauf. Und wenn man sich, ohne es zu merken, eine Platte kauft, die man vor einem Vierteljahrhundert weggegeben hat, dann erinnert mich das fast ein bisschen an unser vergangenes Sorgerecht, das mit Sicherheit in diesen Jahren dazu führt, dass derzeit etliche Väter Sex mit ihren Töchtern haben dürften bzw. umgekehrt, ohne dass die beiden Beteiligten überhaupt irgendetwas davon ahnen. Die antike Tragödie ist hier auch nicht mehr weit. Und so kauft man dann vielleicht die eigene Platte wieder und weiß es nicht einmal.
Immer wenn ich einen dieser Plattenläden betrete, denke ich, was haben wir uns da nur einreden lassen im letzten Vierteljahrhundert? Und statt dass man immer weiter LPs gehört hat, muss man jetzt mit dem Retro-Makel kämpfen. Immerhin habe ich noch ein paar Platten.
Wer Vinyl hört, hört anonym. Kein Internetdienst kann rauskriegen, was du gerade hörst. Das ist umgekehrt wie bei Netz-Pornographie. Da weiß jeder, was du gerade guckst. Und hier wird es nun Zeit, Udo Jürgens ins Spiel zu bringen.
Ich hatte einmal einen Onkel, er hieß Onkel J., Heinohörer, Waldgänger, den ich in meinen Texten im Sinne eines Gedankenversuchs immer mal wieder an den Bahnhofskiosk schicke, damit er sich dort ein pornographisches Magazin oder ein Erotikmagazin kauft, Schlüsselloch, Praline oder noch frühere Ausgaben, er lebte ja schon in den fünfziger und sechziger Jahren sein Leben, von dem ich mir kaum etwas vorstellen kann. Bei ihm war es, wenn es denn so war, umgekehrt wie bei unserer heutigen Netz-Pornographie. Zwar konnte man das vor allem und jedem verstecken und geheimhalten, man war ja nicht online, aber man musste beim Kauf dem Verkäufer gegenübertreten und die Kaufware dann auf den Tresen legen. Das ist eine irgendwie noch viel überwältigendere, weil direkte Art von Öffentlichkeit, wenn auch nur einer Person gegenüber: dem Kioskbesitzer. Einmal Praline bitte. Und St. Pauli Nachrichten der Herr. Und wie immer mit Tüte?
Wenn ich in einen der Vinylläden trete, spüre ich etwas, was im Raum liegt, eine Form von Mainstreamigkeit. Da geht man rein und sucht eine frühe Metallica. Oder die alten Animals, als Eric Burdon noch … oder Chuck Berry. Ich glaube, wer in einen Vinylladen tritt und nach Chuck Berry schaut, der ist normal, der wird ernstgenommen, da gibt es keine Unsicherheit im Blickkontakt zwischen Käufer und Verkäufer. Wenn man in den Secondhandladen geht und sagt: Ich suche Chuck Berry, so die Phase 67/68/69, dann ist das so, als ginge man in den Buchladen und sagt: Ich hätte gern den Doktor Faustus, aber bitte als Band aus der neukommentierten Fischer-Gesamtausgabe.
In jedem Vinylladen spüre ich die Unsicherheit in meinem Blick, das leicht Devote, das ich bekomme, wenn ich nach Udo Jürgens frage. Ich bin schon vor dem Betreten des Ladens nervös. Ich fühle mich nicht schuldig, nein, aber ich muss dann immer an meinen Onkel denken, wenn ich ihn mir am Kiosk ausmale. Bis ins Detail verhalte ich mich ähnlich: Wenn ich in den Laden gehe und Chuck Berry im Sinn habe, ist mir völlig egal, wer sonst noch im Laden ist, ich schaue mir die Leute gar nicht an, sie liegen außerhalb meiner Wahrnehmung. Gehe ich mit dem Vorsatz Udo Jürgens hinein, untersuche ich sofort den ganzen Raum: Wer steht wo, wie sehen die Personen aus, wer steht so nah am Tresen, dass er es mitkriegen könnte? Ich fühle mich geradezu schmuddelig. Und tatsächlich sehe ich in den Augen des Verkäufers, wie es Klick macht und er ein Bild von mir bekommt, wenn ich »Udo Jürgens« sage. Ich hatte mal einen so langen Bart, dass mich Menschen, die mich nicht kannten, für einen Schrat und einen Deppen hielten und dann auch so mit mir umgingen. Das machten sie gar nicht absichtlich, sie bemerkten ihre Diskriminierung gar nicht. Sie tun dich ab und stehen eben einfach über dir. Wenn sie mich dann in der Zeitung oder im Fernsehen sahen, wechselte das Bild natürlich sofort. Aber mit Bart stand ich bisweilen in Schlangen und wurde einfach nicht beachtet und manchmal sogar weggeschubst, und ich hörte Leute über mich sagen (sie wollten mich verteidigen): »Jetzt lasst ihn doch in Ruhe, er kann doch hier stehen wie du und ich auch, oder!?«
Es wurde also über mich in der dritten Person geredet. Dagegen bin ich seit meiner Kindheit allergisch. Das schafft ein langer Bart (es war noch vor der jetzigen Bartmode, und mein Bart war nicht modisch, er sah eher nach Verwesung aus, auf der Straße schrie mir eine Gruppe Jugendlicher mal das Wort Fotzenhuber hinterher).
So sind wir sozialisiert. Die feinsten Nuancen nehmen wir wahr, auch im Vinyl-Laden. Jeden Tag bestätigen wir unsere Vorurteile und können gar nicht anders. Ausgrenzung überall, unbewusste Inklusion ebenso. Vielleicht ist es ja sogar vorauseilender Gehorsam, denn auch wenn ich nun den schweren Gang antrete in mein erstes Jahr ohne Udo Jürgens, so habe ich ja doch zunächst dieselbe Schule durchgemacht wie alle anderen: Pink Floyd, Motörhead, ZZ Top, Blues, Rock’n Roll, und auch in mir ist es eingepflanzt, dass da Udo Jürgens nicht reingehört, dass das was anderes ist, dass das irgendwie …
Schon die Entgeisterung in meinem Umfeld, als ich auf mein erstes Udo-Jürgens-Konzert ging! Kaum etwas in meinem Leben hat zu so ambivalenten Reaktionen geführt. Einige Leute waren schockiert. Andere begannen »Die kleine Kneipe bei mir …« zu pfeifen, was auch etwas unpassend war. Bei vielen, wurde mir damals klar, sitzt die Buenos-Dias-Argentina-Schock noch tiefer, als es je eine Thomas Bernhardsche Verstörung sein könnte.
Nun ist er tot. Nun ist alles klar und am Platz. Von nun an gehen wir erhobenen Hauptes in den Plattenladen. Und kaufen einfach alles, was wir noch kriegen können.
(Aus dem Umfeld Thomas Bernhards ist übrigens zu hören, dass er Udo Jürgens gemocht hat bis hin zur Begeisterung.)
Beitragsfoto auf der Startseite: Joe Haupt, USA (CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons)