Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Neulich habe ich Der Mann mit dem Fagott gesehen.
Ich komme aus einer Steinmetzfamilie. Wir hatten großen Grundbesitz, zumindest für unsere Verhältnisse in Friedberg in der Wetterau. Nicht zu vergleichen mit den Bockelmann’schen Besitztümern in Kärnten und Norddeutschland. Aber immerhin um die dreißig Arbeiter. Wie jede Familie mit größerem Grundbesitz bei uns in der Gegend wurde auch unsere Familie in der Generation nach Stilllegung der Firma durch eben jenen Grundbesitz zerstört.
Je größer der Grundbesitz, in desto kleineren Verästelungen der Familie und noch bis in die Enkel- und Urenkelgeneration hinein pflanzt sich gewöhnlich der Erbvernichtungsstreit fort. Und da die Menschen heutzutage sowieso wesentlich länger leben als früher, hocken nun auch mehr denn je ganz verschiedene Generationen auf ein und demselben Erbe herum und zerfleischen sich deshalb ohne Rücksicht auf Alter und Würde.
Udo Jürgens hat im übrigen bei diesem Wettstreit des »Ich-lebe-länger-als-du« letztlich gar nicht mitgemacht. Das ist erstaunlich, denn ich dachte immer, bei ihm gehe es darum, nicht nur älter als alle anderen zu werden, sondern dies auch auf eine besonders gesunde und juvenile Weise zu tun. Und dann stirbt er einfach schon mit achtzig, was ihm noch ein Tag vorher wohl niemand auf der Welt zugetraut hätte.
Als am 21.12. gegen 18.00 Uhr die Nachricht auf meinem Telefon erschien, hätte da jeder gestorben sein können, Merkel, Obama, Putin; Lindenberg, Grönemeyer, Maffay; Ganz, Mühe, Sander (die letzten beiden waren ja sowieso schon tot): Bei niemandem hätte mich die Nachricht so erstaunen und verwunden können (verwunden, nicht nur verwundern) wie bei Udo Jürgens. In Wahrheit focht er nämlich für mich, und das wurde mir erst im Augenblick seines Todes bewusst, einen titanenhaften Kampf, und zwar gar nicht einmal nur den letztlich banalen Kampf gegen Alter und Tod. Er focht den Kampf gegen die Anmaßung, die im Alter und im Tod steckt. Burschikos streckte er Alter und Tod eigentlich permanent den Mittelfinger entgegen, und seine Lippen murmelten dazu: Fick dich, nicht mit mir.
In meiner Stammkneipe Zu den drei Steubern in Frankfurt am Main kamen sogleich Theorien auf, kaum war er tot. Die eine Theorie lautete: Drogen. Die letzte Tour habe Udo ja gar nicht durchstehen können, ohne jeden Abend seine Linie zu ziehen. Und weil, anders als bei Christoph Daum, die Spuren diesmal wirklich akkurat beseitigt werden sollten, wurde er nach einer sehr ungewöhnlich kurzen Frist von nicht einmal 48 Stunden schon final beseitigt, also verbrannt. Da ja sein Bruder Arzt ist, hatte dieser über die Verwaltung des Jürgens’schen Todes die Oberhoheit und konnte das alles so hinter der Hand und so weiter. Zweite Theorie: Selbstmord. Das ist die Theorie derer, die ihm sowieso immer alles geneidet haben. Auf der Bühne habe er noch den dicken Max gemacht, aber privat eh keinen mehr hochgekriegt, sei ganz vereinsamt, depressiv gewesen wahrscheinlich, und das verlogene Spiel des tollen Udo habe er in der Öffentlichkeit sowieso schon zu lange gespielt, und jetzt, wo der Zahn der Zeit tatsächlich an ihm nagte, sei er gleich fahnenflüchtig geworden, der alte Feigling da in seinem Bademantel. Und weil sein Bruder ja Arzt sei, habe er ihn ehrenhalber gleich beseitigen lassen, damit man da nichts nachweisen kann.
Ich habe zu diesen Theorien nichts gesagt. Ich sage nie etwas zu Theorien, und schon gar nicht in meiner Stammkneipe. Eine Stammkneipe ist dazu da, dass in ihr Theorien entwickelt werden, aber nicht, dass man dort Theorien widerspricht. Deshalb habe ich auch nichts zu dem seltsamen Phänomen gesagt, dass Udo Jürgens’ Bruder von beiden Seiten zum Arzt gemacht wurde. Bekanntlich ist Manfred Bockelmann aber Maler, und kein Arzt. Sagt ja schon das Udo-Jürgens-Lied. (Mein Bruder ist ein Maler.) Ich muss zugeben, im ersten Augenblick fiel mir das gar nicht auf, als alle plötzlich von einem angeblichen Arzt-Bruder anfingen. Irgendwie muss ich dabei unbewusst an Thomas Bernhard und seinen Halbbruder gedacht haben, den mir so sympathischen Peter Fabjan.
Ich wollte aber von Erbstreitigkeiten sprechen. Nein, ich wollte eigentlich von dem Film Der Mann mit dem Fagott sprechen. Das Einzige, was mir von meiner Familie geblieben ist, nachdem die Aasgeier durchgezogen waren, ist das sogenannte Herrenzimmer meines Großvaters mütterlicherseits, des Firmenchefs. Schreibtisch, Sessel, Bücherschrank und Sitzgruppe. Tatsächlich sieht es bei mir zuhause aus wie vor einigen Jahrzehnten und noch vor dem Bauhaus. Da durften Möbel noch wuchtig sein. Als ich noch in Bad Nauheim wohnte, hatte ich aus dem Haus meiner Großmutter eine Art Museum gemacht, alles sollte möglichst so aussehen wie zu der Zeit, als meine Großmutter noch das Haus bewohnt hatte. Wo ich lebte, lebte ich ja immer nur als Gast. Als ich dann nach Frankfurt gezogen bin, nahm ich das Herrenzimmer mit. Allerdings fuhr ich zu der Zeit auch noch zum Keltern in meine Heimat zurück und war sowieso noch hin und wieder in der Wetterau. Jetzt aber lebe ich in Hamburg. Hier gibt es keine Heimat mehr. Hier gibt es jetzt nur noch das Herrenzimmer meines Großvaters.
Neulich nun also lief ich über die Grindelallee und blieb vor einem Schaufenster stehen. Ich hatte, wie immer in Hamburg, kein Ziel. Ich kenne hier ja keinen Menschen. Ich rede hier am Tag maximal mit einer Person: meiner Frau. Aber die hat auch nicht oft Zeit. Ich kenne in Hamburg ganze drei Leute, habe aber auf meiner Anrichte sieben Bembel stehen. Es gibt in meinem Leben also inzwischen mehr Bembel als Menschen. So weit ist es gekommen.
Ich lief planlos über die Grindelallee auf der Suche nach einem sonnigen Winkel, wie ein Insekt oder ein Kafka’scher Käfer. Ich wollte mich einfach nur dahin stellen, wo ein wenig Sonne hätte sein können. Es gibt manchmal sehr wenig Sonne in Hamburg. Und sah dieses Schaufenster und sah darin für 7,99 Euro den Mann mit dem Fagott. Ähnlich wie Chaplin als Tramp, wenn er auf dem Boden einen Essensrest findet und sich dann damit verstohlen um die nächste Ecke buckelt, damit keiner sieht, wie er verschwindet – ähnlich zog ich mit der DVD davon, obgleich ich doch diesen Plastikkram hasse.
Zwei Stunden später steht im Film Udo Jürgens bei seinem Onkel in Hamburg in dessen Büro- und Herrenzimmer. Es ist der Tag, an dem Udo Jürgens später am Abend in einer Hamburger Kneipe sitzen wird und im Radio Shirley Bassey hört, wie sie – ein Lied von ihm singt. Der Tag seines internationalen coming out, wenn der Begriff in diesem Zusammenhang erlaubt ist. Am Nachmittag aber steht der Film-Udo-Jürgens wie gesagt noch bei seinem Film-Onkel im Büro, während ich in meinem Hamburger Real-Herrenzimmer an meinem Laptop sitze und den Film schaue, und der Onkel sitzt am Schreibtisch und erklärt seinem Filmneffen, dass heute Abend – leider – eine Gesellschaft, wichtig, Vorstandsvorsitzende, Aufsichtsräte, also diese korrupten Popanze aller Art, bei ihm zum Essen geladen sei, und der kleine Udo ohne Ausbildung und Karriere möge doch bitte dem Abend fernbleiben, sich irgendwo amüsieren (in Hamburg!), und dafür gibt ihm der Onkel zwanzig Mark, glaube ich. Oder waren es nur zehn?
Mir hat niemals ein Onkel Geld gegeben. Der Onkel, zu dem ich am meisten Kontakt hatte, war sowieso geburtsbehindert und versoff immer gleich jedes Geld. Der wollte eher Geld von mir. Als ich so alt war wie Udo Jürgens in jener Szene, sechsundzwanzig, war meine Großmutter bereits tot und das Herrenzimmer verwaist. Meine Eltern schafften es zu sich in den Mühlweg, denn meine Schwester sollte im Haus der Großmutter einziehen, und das hätte sicherlich kein Möbelstück überlebt. Deshalb räumten sie das Haus vorher lieber aus. Am Herrenzimmer hängt im Grunde die gesamte Geschichte der Bolls, drei Generationen, erst die Firma, dann der Krieg, anschließend unsere amerikanischen Besatzer, die zwölf Jahre an diesem Schreibtisch saßen, während Elvis Presley zeitweilig drei Häuser weiter wohnte. Später der Weltmarkt, die Konkurrenz, die Abwirtschaftung, die Schließung, der finale Streit um das Firmengelände, der Tod der Großmutter. Bis zuletzt hatte eine Fotografie ihres Mannes Wilhelm auf dem Schreibtisch gestanden. Er war bereits 1967 gestorben. In Hamburg hängt seine Fotografie jetzt neben dem Schreibtisch. Das Bild stammt aus dem Jahr 1926. »Meinen lieben Eltern zu Weihnachten« steht darauf. Da war ich minus 41 Jahre alt. Heute bin ich plus 47.
Ich kam also von meinem einsamen Gang auf der Grindelallee nach Hause, saß an meinem Schreibtisch neben meinem Großvater, sah den Film, sah Udo Jürgens das Zimmer seines Onkels betreten, und was sehe ich, als ich das Zimmer des Onkels sehe? Meinen Schreibtisch. Udo Jürgens Film-Onkel sitzt an genau meinem Herrenzimmerschreibtisch, an dem ich gerade den Film schaue. Der Schreibtisch, an dem ich fast alle meine Romane geschrieben habe und meine ganze Ortsumgehung. Da ich an dem Tag schon ein paar Gläser Apfelwein getrunken hatte (ich lasse ihn nach Hamburg liefern), war ich dementsprechend gerührt. Mein nach Hamburg geratener Schreibtisch – der letzte Rest meiner Familie – meiner Herkunft -, und wo finde ich ihn wieder? Bei den Film-Bockelmanns im Film-Hamburg.
Ab sofort hat mein Schreibtisch Symbolcharakter. Er ist für mich jetzt das, was jene Skulptur, der Mann mit dem Fagott, für die Bockelmanns war. Das Symbol der dritten Generation. Alles passt: Udo Jürgens wurde nicht mehr Vorstandsvorsitzender oder Bankier, sondern Musiker (Fagott), ich Schriftsteller und nicht mehr Steinmetz (Schreibtisch).