Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Neulich stand ich am Buffet der Apfelweinwirtschaft Zum Gemalten Haus in Frankfurt-Sachsenhausen auf der Schweizer Straße. Ich trank Apfelwein, es war sonst niemand da von den üblichen Buffet-Leuten, also denen, die da immer stehen, und setzte mich auf das kleine Zweisitzerholzbänkchen direkt neben der Eingangstür. Es war Nachmittag, die Sonne fiel durch die getönten Scheiben, es machte sich Frankfurter Licht breit.
Das Frankfurter Licht schafft stets Wehmut und Erinnerung. Darin ist es völlig anders als das Wetterauer Licht, aus dem ich ursprünglich komme. Als ich noch in der Wetterau gelebt habe, habe ich stets geglaubt, die Wetterau kenne das auch: Wehmut und Erinnerung. Aber da ist die Wetterau gar nichts gegen Frankfurt. Erst in Frankfurt beginnt das Leben richtig wehzutun.
In der Wetterau schauen alle stets nach vorn. In Frankfurt die meisten zurück. Frankfurt ist eine Erinnerungslandschaft, und unsere Erinnerungstechnik besteht darin, diese getönten Scheiben in die Apfelweinwirtschaften zu bauen, das Licht hindurchfallen zu lassen und dann automatisch ins Schoppenglas zu starren wie die Wahrsagerin bei ihrer Zukunftsansage. Im Gegensatz zu ihr blicken wir aber in die Vergangenheit. Der EZB-Turm wird in den Frankfurter Schoppengläsern erst erscheinen, wenn er wieder niedergemacht worden ist. Für die Frankfurter wird er erst dann wirklich existieren, wenn er wieder weg ist und man sich an ihn erinnern kann.
Ich saß also auf jenem Bänkchen, mit dem auch eine Erinnerung verbunden ist. Einstmals hatten meine Frau und ich uns auf dieses (in Frankfurt berühmte) Zweierbänkchen neben dem Eingang gesetzt, da war es schon längere Zeit ein wenig unsicher und locker und sozusagen zittrig wie ein alter Frankfurter gewesen, und es macht pardauz wie bei Hergé, und meine Frau und ich sitzen auf dem Boden, was ausgesehen haben muss wie bei Schulze und Schultze in den Tim-und-Struppi-Comics.
Wozu man in Frankfurt in den Wirtschaften übrigens auch neigt, ist das Abschweifen. Geradezu schwejkhaft kommt man vom einen zum nächsten Thema, ohne das erste abgeschlossen zu haben, und kommt dann in schöner Regelmäßigkeit zum vorigen Gesprächsglied gar nicht mehr zurück, sondern endet irgendwann beim fünfundzwanzigsten. Der Unterschied, der den Schriftsteller ausmacht, ist, dass dieser wieder zurückkommen kann, denn er hat es schriftlich notiert.
Neulich saß ich also auf jenem wieder gut befestigten Bänkchen, starrte allein für mich ins Schoppenglas, und plötzlich sah ich einen ganz bestimmten Tag aus der Vergangenheit vor mir. Es war der Tag meines ersten Udo-Jürgens-Konzertes.
Mein erstes Udo Jürgens Konzert … Ich muss dazu sagen, dass ich immer extrem spät zu den Dingen komme. Das geht mir fast mein ganzes Leben schon so, denn eigentlich schaue ich immer nur zurück und nie nach vorn. Natürlich ärgere ich mich, dass meine Bekehrung bzw. Verwandlung (meine Wandlung hin zu Udo Jürgens) nicht schon in den, sagen wir, achtziger Jahren stattgefunden hat, aber das steht wie gesagt in einer langen Reihe von Verspätungen.
Mit dreizehn, vierzehn Jahren war ich noch einigermaßen pünktlich. Zum Beispiel als Bots in Deutschland herauskam, ging ich gleich auf Bots-Konzerte. Hannes Wader hörte ich damals schon oft auf diversen Demos, aber ich schätzte ihn noch nicht so wie später. Pünktlich war ich z.B. auch, als Eliahu Inbal sämtliche Mahler-Sinfonien in der Alten Oper dirigierte, da fuhren wir dann immer mit dem Schulbus aus der Wetterau hin. Ich habe auch noch rechtzeitig Bernhard Minetti gesehen und einmal sogar ein lustiges Gespräch mit ihm gehabt, da war ich Abiturient.
Auch Segovia habe ich noch gehört. Auch wenn er da schon kaum mehr so ganz konnte. Vor allem bin ich froh, dass ich ganz früh den damals noch musikalisch hochdepressiven Wolfgang Ambros kennengelernt habe (ich meine: auf Platten). Der hat meine erste halbe Jugend gemacht (und entsprechende Spuren hinterlassen).
Aber ab 1984 habe ich eigentlich alles Neue verpasst. Es folgten meine disziplinierten Jahre. Selbst für meinen Fußballverein meinte ich mich nicht mehr interessieren zu müssen. Es ging ab da nur noch um Musik vergangener Epochen (von Desprez bis Skrjabin), um Bücher und um Mädchen.
Nick Cave etwa lernte ich sage und schreibe erst 2002 kennen. Den Namen Joy Division habe ich vor ein paar Jahren zum ersten Mal gehört. New Order kenne ich gar nicht. Oder Portishead und dergleichen. Oder noch viel schlimmer: Can. Überhaupt Holger Czukay. Ging alles an mir vorüber, obgleich ich das in der Zeit vor 84 ja hätte hören können. Immerhin habe ich Ian Anderson mit Jethro Tull noch vor seinem endgültigen stimmlichen Absturz erlebt. Tull-Konzerte waren sowieso phantastisch.
Der immer da war, als Einziger, und zu dem ich schon seit langer Zeit gehe, ist Paolo Conte.
Oder The Notwist. Kenne ich erst seit dem letzten Album, und dabei hatte ich schon vorher mit deren Manager zu tun.
Wahrscheinlich bin ich auch der einzige Mensch meiner Generation, der von der Existenz einer Band namens The Smiths erstmals im Jahr 2005 oder so gehört hat. Die hat sogar meine Frau gehört. Und meine Frau hat früher sonst eigentlich fast nichts gehört.
Daher war der Udo-Jürgens-Schock vielleicht ja auch so groß, als Nina, die Lehrerin aus dem Gießener Raum, mich verwandelte und zu ihm bekehrte. Ich kam zu Udo Jürgens, da war er bereits 76. D.h., ich habe bei ihm ein ganzes Leben verpasst. Ich hätte dreißig Jahre auf Udo-Jürgens-Konzerte gehen können. Es gibt nur ein einziges weiteres so riesenhaftes Missgeschick in meinem Leben: Wolfgang Wagner, den Wirt der Apfelweinwirtschaft zu den Drei Steubern in Frankfurt am Main, Dreieichstraße Ecke Klappergasse. Ich gehe zwar seit Anfang der neunziger Jahre konsequent zum Apfelwein, aber da ich ein konservativer, starrer, unbeweglicher Mensch bin, hatte ich mich schnell auf eine Wirtschaft festgelegt, eben das Gemalte Haus. Seit Anfang der Neunziger aber sagten mir Menschen, ich sollte mal in die Drei Steuber gehen. Ja, gut, dachte ich immer, man bekommt ja dies und das gesagt, aber man muss ja nicht alles machen, was einem so gesagt wird. Ich ging fünfzehn Jahre lang konsequent fast ausschließlich ins Gemalte Haus, es handelt sich ja auch um eine wirklich schöne Wirtschaft.
2006 war ich in der Villa Massimo. Udo Jürgens war fern, er war noch kaum wieder ein Begriff in meinem Leben (er spielte damals die Jetzt oder nie-Tournee, seine zwanzigste). Wenn ich zu Besuch nach Deutschland fuhr, ging ich ins Gemalte Haus. Ich vermisste nichts.
Als ich im Januar 2007 aus Rom zurückkam, suchte ich eines Tages mehr oder minder zufällig die Wirtschaft Zu den Drei Steubern auf. Ich wurde verwandelt. Wie damals von Nina im Haus der Malerin. Und ich sagte mir anschließend: Du Idiot, du hättest die Drei Steuber schon 1990 kennenlernen können, ja müssen. Du hast siebzehn Jahre deines Lebens versäumt. Nach wenigen Wochen schon schwor ich meinen Steuber-Schwur: Immer, wenn ich in Frankfurt bin und der Wolfgang hat an diesem Tag auf, gehe ich mindestens einmal hin.
Nach dem ersten Konzert von Udo Jürgens sagte ich mir, du gehst jetzt immer zu Udo Jürgens, wenn er auf Tournee geht. Ich dachte ja damals, er werde hundert und wir hätten noch Zeit …
Mein erstes Udo Jürgens Konzert: Die Wetterauer Malerin, Nina und ich versammelten uns vorher im Gemalten Haus und tranken uns warm. Ich war schon vor dem Konzert überzeugt, dass Alkohol einerseits die Udo-Jürgens-Wirkung maßgeblich verstärken, andererseits aber auch als Palliativ nötig sein würde, um nicht völlig von Udo Jürgens überrannt zu werden. Da die Musik von Udo Jürgens ja so schon emotional kaum auszuhalten ist und jedes Lied auf Platte einen mitnimmt wie fünfmal Doktor Schiwago hintereinander (s.u.), ahnte ich, dass das auf einem Konzert noch hundertmal verstärkt der Fall sein würde. Übrigens kann man besser ironisch werden, wenn man trinkt. Und man kann nicht zu Udo Jürgens hingehen, ohne die eigene Emotionalität zu ironisieren, denn ohne das kann man ein solches Konzert gar nicht überleben. Man weint ja am Ende weniger über seine Lieder, sondern man weint über das eigene Weinen und dass man so ergriffen ist. Daher vorher lieber Alkohol.
Wir tranken Herrengespritzten. Manche nennen das Getränk auch Sachsenhäuser Herrengespritzter. Wobei das Wort Herren hier noch ganz altertümlich so etwas wie: edel, auf die Besseren und Oberen bezogen heißt. Etwa wie in Herrenhaus. Oder in Herrenmensch.
Herrengespritzter wurde früher in den siebziger, achtziger Jahren im Gemalten Haus ständig getrunken, das sah dann so aus, dass der Wirt, damals Rigobert Hanauske, oder sein Buffetier, damals meistens Peter Mölter, in einen Drei-Liter-Bembel zwei Liter Apfelwein schüttete und dann einen Liter Sekt. Je nach Qualität des Sektes überlebt man das Getränk besser oder schlechter. Zumindest hat das Getränk eine ziemlich knallende Wirkung.
Wenn man heute Herrengespritzen bestellt, wird man angeschaut wie ein Dinosaurier. Das Getränk stammt aus den Zeiten, als es allen noch gutging, als alles am Zocken und noch richtig Geld in Frankfurt vorhanden war, als die Promillezahl selten unter 2,0 sank. Als noch in den Redaktionsstuben gesoffen und geraucht wurde, als noch im Autoverkehr gesoffen und geraucht wurde, als noch nach dem bzw. während des Beischlafs gesoffen und geraucht wurde und als noch im Gemalten Haus gesoffen und geraucht wurde, ersteres unter anderem mit Herrengespritztem. Und wenn ein Herr am Buffet mit zwei Damen Herrengespritzte trank wie ich am Tag des Udo-Jürgens-Konzertes, dann wusste man sowieso, was los war.
Also stiegen wir, nachdem wir uns herrenmäßig warmgetrunken hatten wie in alten Zeiten, in die U-Bahn, um zu einem Konzert zu gehen, und zwar zu einem Herrn, der ebenfalls aus alten Zeiten stammte und die Epoche noch kannte, wo noch bei allem geraucht und gesoffen wurde: Udo Jürgens. Man fährt ja nicht nur in die eigene Jugend und die eigene Vergangenheit zurück, wenn man in die U-Bahn steigt, um zu Udo Jürgens zu fahren, nein, man reist gleichsam insgesamt in der gesellschaftlichen Zeit rückwärts. Hinaus aus der Hartz-4-NSA-Pegida-Grexit-Blatter-Zeit in die, in der noch alles möglich war und man vielleicht sogar noch ein Sportcoupé fuhr, mit zwei Damen im Arm.
In der U-Bahn fühlten wir uns allerdings etwas allein. Ich erinnerte mich an das letzte Böhse-Onkelz-Konzert, da hatten alle in der U-Bahn (alle!) Böhse-Onkelz-T-Shirts an und waren schwarz, tranken Bier und schauten düster, als erwarteten sie den Doomsday. Ich saß damals nur zufällig im Zug. Es gab auch einige in schwarzen T-Shirts mit Aufdruck, die schauten nicht ganz so düster und schwätzten nicht vom Doomsday, sondern von alten Tagen, als die Böhsen Onkelz auch noch jünger waren, das waren dann Frankfurter, man hörte es. Die hatten eine Possmannflasche in der Hand und kein Bier.
Bei uns in der U-Bahn zum Römer: Kein Anzeichen, dass ein Udo Jürgens in der Stadt sei. Aber wir fuhren ja vorerst nur zum Römer, um dort in die eigentliche U-Bahn zum Konzert-Ort Festhalle umzusteigen.
Als wir am Römer umstiegen, waren wir dann doch etwas betreten. Kein Udo-Jürgens-T-Shirt, keine Bademäntel, keine Anzüge mit roten Einstecktüchern, nichts, nur das allgemeine Fahrpublikum. Da fühlten wir uns für einen Moment seltsam. Hatten wir uns, indem wir zu einem Konzert von Udo Jürgens fuhren, so außerhalb jeden normalen Maßstabs gesetzt? War das so ungewöhnlich? Waren wir so anachronistisch?
Auf dem kurzen Weg zur Station Festhalle/Messe musterten wir alle im Waggon daraufhin, wer wohl aussteigen und zum Konzert gehen könnte. Offenbar niemand. Alles sah einfach aus wie immer, wie jeden Tag. Es waren solche Leute im Zug, wie sie immer in diesem Zug sind.
Als der Zug zum Stehen kam und die Türen öffneten, stiegen alle aus, der komplette Zug. Das war ein bemerkenswertes Statement! Auch in der ausverkauften Festhalle selbst sah ich das ungewöhnlichste Publikum meiner Konzertgängerkarriere versammelt. Man erkannte sie an nichts. Man könnte sofort ad hoc ein Leonard-Cohen-Publikum charakterisieren, ein Paolo-Conte-Publikum (sieht leider am ehesten aus wie eine Lehrerzimmerbelegschaft), genauso wie ein Oasis-Publikum oder ein, sagen wir, Funny-van-Dannen-Publikum. Bei Peter Gabriel stehen sie in alten Genesis-Selling-England-By-The-Pound-Tournee-T-Shirts oder dergleichen herum, und die T-Shirts wölben sich über den Bierbäuchen. Hier aber war nichts charakteristisch, abgesehen von einem gewissen Glanz, der auf allen Gesichtern lag. Ein seliger Champagnerglanz. Als hätten alle Herrengespritze getrunken.
In keinem Lied des Konzertes ging es um Sex oder Tod. ›Die Nacht mit dir, von der ich träume‹ und dergleichen kommt in seinen Liedern ja nicht vor (da heißt es dann höchstens: Ich weiß, was ich will, und das ist ja auch ganz konkret gesagt). Und gestorben wird nirgends bei Udo Jürgens. Dennoch, obgleich beides gerade bei ihm nicht vorkommt, war während des Konzertes zweierlei deutlich zu spüren, erstens die überall einsetzende allgemeine Verjüngung, die jeden Konzertbesucher ergriff, der dem Tod schon nähergerückt war (vice versa wurden die völlig verknallt herumstehenden sechzehn- oder siebzehnjährigen Mädchen plötzlich mindestens zehn, fünfzehn Jahre älter). Und zweites die kraft des Jürgens’schen Wahrheitsausdrucks um sich greifende, ja, wie soll ich sagen, erotische Betroffenheit vom eigenen Leben. Es war so, als wollten schon während des Konzerts alle unbedingt sofort mit irgendwem ins Bett, auch wenn sie das vielleicht schon seit zwanzig Jahren nicht mehr gemacht hatten oder bislang noch nie. Daher schrieb ich in einem FAZ-Artikel einmal, dass die Koitalquote nach einem Udo-Jürgens-Konzert ähnlich hoch sein dürfte wie bei einem allgemeinen deutschen Betriebsausflug (der einer Karnevalsfeier statistisch kaum nachsteht).
Ich stand am Buffet im Gemalten Haus und starrte in mein Schoppenglas. Und sah darin das ganze Konzert. Und sah eigentlich die ganze vergangene Welt. Die ganze Welt im Schoppenglas, im Gemalten Haus am frühen Nachmittag im Frankfurter Licht.
Bei Udo Jürgens heißt es: »Schau nach vorn, nicht zurück.«
Bei uns in Frankfurt heißt es ganz anders. Frankfurt, das ist: Schau zurück, nicht nach vorn, und würdige das da vorn erst dann, wenn es schon wieder hinter dir liegt. Nennen wir es: Das Frankfurter Gesetz.