Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Neulich fiel mir auf, dass niemand in meiner Jugend Udo Jürgens gehört hat. Meine Jugend war die einzige Udo-Jürgens-lose Zeit meines Lebens.
Vermutlich aus folgendem Grund: Wie jede Jugend war auch meine Jugend eine Zeit der musikalischen Parteiungen. Die Menschen in meinem Leben neigten überall dazu, Parteien zu bilden. Schon in jedem noch so kleinen Dorf gab es bei uns stets zwei rivalisierende Kinder- bzw. Jugendbanden. Sie steckten sich irgendein Erkennungszeichen an oder trugen ganz bestimmte Kleidungsstücke, um sich voneinander abzugrenzen, und hauten sich dann gegenseitig die Köpfe ein. Später begannen sie, die eine oder andere politische Partei zu wählen und hauten sich dann im Stadtparlament oder am Stammtisch die Köpfe ein.
Bundesweit war zu meiner früheren Zeit alles in rechts und links bzw. christdemokratisch und sozialdemokratisch bzw. konservativ und – jetzt fällt mir doch das Gegenwort nicht ein! – unterteilt, das eine war immer gut und das andere immer böse. Die eine Seite dachte immer über die andere, dass man denen quasi das Hirn aus den Köpfen gelöscht haben musste.
Kontinental oder weltweit teilten wir uns in die Sieger- und die Verlierermacht, also in jene Partei, die den Krieg gewonnen hatte, und in die, die ihn nicht gewonnen hatte. Hier gab es natürlich verschiedene Untergruppierungen. Zwar war Deutschland ganz klar der Verlierer des letzten hiesigen Hinhauens, und die Amerikaner und die Russen waren die Gewinner (England und Frankreich lassen wir mal außer Acht). Aber da es zwei Gewinner nicht geben konnte, hatten sie schon lange vor meiner Kindheit den Kalten Krieg erfunden, ein kriegstechnisches Patt. Der Kalte Krieg war eine Art Laufsteg, mit konkurrentem Schaulaufen darauf. Allerdings war die Sowjetunion bei diesem Schaulaufen nie über ein Graue-Maus-Image hinausgekommen. Die Russen probierten es in dieser Leistungsschau immer wieder, mit Gagarin, mit olympischen Medaillen usw., aber zum Mond kamen sie trotzdem zu spät, und laut den Aussagen sämtlicher Zeitzeugen hatten die Amerikaner schon 45 die schickeren Uniformen. Wir hatten mehr Autos! Wir durften uns frei bewegen! Hat irgendwer hier jemals einen Russen beneidet? Hat je ein Amerikaner einen Russen beneidet? Was ist unser Bad Homburger Ivan Rebroff je gegen unseren Bad Nauheimer Elvis Presley gewesen? Wir hatten ja nicht mal einen richtigen Russen!
Und um der Geschichte eine Nase zu drehen, waren wir, die BRD, zwar Teil des Niederlagenreiches, aber zugleich auf der Seite des Siegers bei jenem Schaulaufen, nämlich der USA. Deshalb konnte jemand wie ich, auch wenn wir verloren hatten, trotzdem wie der Sieger herumstolzieren, denn es gab ja auch noch die DDR und überhaupt den ganzen Ostblock, also die grauen Mäuse dort drüben, die eh keiner wollte und die wir alle bemitleideten. Eine größere Form der Erniedrigung war kaum denkbar. Ein Land, das ein anderes Land komplett bemitleidete.
Eben dieses gemeine Schicksal erlitt die DDR. Die DDR unterlag schon beim allgemeinen Schaulaufen, war also stets der Verliererdepp, aber kaum wechselte sie auf die Seite der Gewinner (zu uns) herüber, musste sie begreifen, dass wir nicht gekommen waren, um die DDR zu sanieren, sondern um uns zu sanieren, und zwar auf Kosten der DDR. Den Frust, den das erzeugte, konnte man sich hierzulande lange wohl gar nicht vorstellen. DDR-Bürger = ewiger Verlierer. Das ist, wie wenn du endlich aus den Klauen der bösen Stiefmutter entkommst, deine wahren Verwandten findest, und die sind auch alle sehr nett und locker und aufgeschlossen, kaufen dir Strapse und Wäsche und stellen dich gleich in die Auslage ihres Bordells. Kassieren tut die Verwandtschaft. Dumm gelaufen, andere Verwandte hast du ja nicht mehr!
Die größte Parteiebene weltweit und über alle Jahrhunderte hinweg, also sowohl am meisten Zeit als auch Raum umspannend, ist die Religion. Religion hat bei den meisten Menschen mitnichten etwas mit Reflexion, Philosophie und Transzendenzerfahrungen zu tun, oder wenigstens mit einem irgendwie spirituellen Bedürfnis, sondern einfach mit Parteizugehörigkeit. Bislang lebten wir diesbezüglich sozusagen noch auf Dorfebene, und die einzigen, die sich gegenseitig die Köpfe einschlugen, waren die Protestanten und die Katholiken, das ging ja eine Generation vor mir auch noch richtig zur Sache. Mein Großvater kam aus einer von vier katholischen Familien innerhalb des ansonsten protestantischen Friedberg. Damals hieß es noch, wer unsere gotische Stadtkirche betritt (evangelisch), begehe eine Todsünde. Manche glaubten, sie würden beim Betreten auf der Schwelle tot umfallen. Ein ehemaliger Lehrer von mir entwickelte einmal die Theorie, für einen jungen Konvertiten aus dem Protestantischen ins Katholische gebe es nichts Schöneres als die Todsünde. Mit der Todsünde im Genick mache das Onanieren erst so richtig Spaß.
Dann, kurz vor meiner Geburt, zweites Vatikanum, haben wir angefangen, so zu tun, als sei Religion irgendwie das Friedlichste überhaupt.
Nun ist aber zum Beispiel ein Fußballverein mitsamt Anhängerschaft einer Religionsgemeinschaft bis in die Mikrostruktur hinein ausgesprochen ähnlich. Bei einer Religionsgemeinschaft gibt es Theologen, Priester, Professoren, also die, die für die Theorie und die praktische Anleitung zuständig sind, das sind übertragen auf den Fußball die jeweiligen Vorstände, die Trainer, die Aufsichtsräte usw. Dann gibt es die Laien, die Fans. Diese können sich in unterschiedlichen Strukturen zusammenfinden, die einen geben Zeitschriften heraus, theologische, ökumenische, Fanzines, die anderen hauen sich als Fundamentalisten oder Ultras mit den Fundamentalisten oder Ultras anderer Vereine bzw. Religionsgruppen die Köpfe ein. Bei der Religion wie beim Fußball hauen die aus der Theorie- und Praxis-Abteilung eher selten zu, sondern hauptsächlich die intellektuell weniger bedarften oder einfach von Natur aus aggressiveren Teile des Fußvolks.
So scheidet sich alles stets in Parteien, auf jeder Gesellschafts- und Zivilisationsebene und durch alle Zeiten hindurch. Von Christen und Muslimen über Wagnerianer und Brahmsianer bis hin zu, sagen wir, Frankfurtern und Offenbachern.
Und so sehe ich heute auch immer die Plattenfirmenchefs von damals, wie sie sich die Hände reiben, während wir in Ockstadt auf dem Kirschberg sitzen, einen batteriebetriebenen Radiorecorder (also noch die Vorstufe des Ghettoblasters) dabeihaben (es ist noch die Zeit vor dem ersten Walkman) und Led Zeppelin, Deep Purple, Motörhead oder Pink Floyd hören, weil wir glauben, dass das gute Musik ist. Und fünfzig Meter weiter sitzt die andere Gruppe, die Gegengruppe, und hört so etwas wie, sagen wir, Smokie oder Sweet oder T-Rex, also die grauenhafteste Musik überhaupt (wie wir glauben). Noch meine Eltern hätten in all dieser Musik nie einen Unterschied sehen können. Wir schon! Und irgendwann fliegen die ersten Bierdosen hin und her. Und dann aber so was von aufeinander los.
Wir, die Menschen!
Sehen Sie, wie der Hase in dieser Kolumne läuft? Sehen Sie, wieso in meiner Jugend keiner, wirklich keiner je Udo Jürgens gehört hat? Warum auch später ein Udo-Jürgens-Gänger nie an irgendetwas, an irgendeinem Merkmal zu erkennen war? Vielleicht weil sie alle auch deshalb immer wieder zu Udo Jürgens gingen, um vor dem üblichen, eben geschilderten Schwachsinn einfach mal ihre Ruhe zu haben. Udo Jürgens, die Nicht-Partei.