Im November 2014 besuchte Andreas Maier in Frankfurt zum letzten Mal ein Konzert von Udo Jürgens. In seinem Bericht in der FAZ schrieb er, der Künstler Jürgens wisse stets, »wo und in welchen Momenten man sich die Glücksverheißung oder Wahrheitsverheißung vom eigenen, ganz konkreten gesellschaftlichen und privaten Leben abringen kann oder muss«. Nach dem Tod von Udo Jürgens Ende Dezember entschloss sich Andreas Maier, der Erzähler der Alltäglichkeiten des Alltags, dem angriffslustigen Sänger noch einmal nahezukommen. Zweimal im Monat erscheint seine Kolumne unter dem Titel »Mein Jahr ohne Udo Jürgens«.
Mein Jahr ohne Udo Jürgens begann in dem Augenblick, als ich in der Buchscheer auf mein Mobiltelefon schaute und dort die Mitteilung sah: Er ist tot.
Einmal, vor zwölf Jahren, saß ich mit einem Künstler aus Halle in einem winzigen Dorf in Südbrandenburg, wo man nachts keinen Grashalm knicken hört und es bei Neumond überaus dunkel ist, weil die nächste Laterne fünf Kilometer entfernt ist und die nächste Stadt fünfundzwanzig Kilometer. Man sieht dann, kurz gesagt, nichts. Wir befanden uns in einer Wirtschaft, der einzigen weit und breit, sie hieß »Kuppis feuchte Ecke«, da gingen wir öfter hin, der Wirt war taub, aber sehr nett, saß immer vor dem Fernseher und war meist sein einziger Kunde. An diesem Abend aber war ziemlicher Betrieb, es waren mindestens vier oder fünf Leute da. Ich saß mit dem Künstler unter einem Busenkalender, wir tranken jeder fünf halbe Bier und fünf doppelte Korn, zum Abschied gab uns die Frau des Wirtes, eine überaus virile Person, das aktuelle Blatt des Busenkalenders mit (vielleicht wirkten wir bedürftig). Dann stiegen wir auf unsere Fahrräder, zwei geliehene Rostschärpen. Wir wohnten im Nachbardorf. Wir fuhren um eine Straßenecke und waren aus dem Dorf heraus, die Radlampe des Künstlers aus Halle fiel sofort aus, meine flackerte – …
Die letzte Laterne blieb hinter uns – ich sah meinen Lichtkegel – ich ging aus dem Sattel und beschleunigte. Ich Westdeutscher! Was wir Westdeutschen nie kannten (zumindest die Rhein-Main-Gebietler): völlige Dunkelheit. Munter stehe ich auf meinen Pedalen, sehe den Lichtkegel meiner Lampe, sehe seltsamerweise plötzlich Gras unter mir in meinem Lichtkegel (eigentlich fuhren wir auf der Straße, warum war da jetzt Gras?), und dann ereignete sich etwas, das genauso unerwartet kam wie Udo Jürgens’ Tod bzw. die besagte SMS.
Etwas traf mich mitten im Gesicht. Ich kann im Nachhinein gar nicht mehr genau sagen, ob ich sukzessive wahrgenommen habe, was geschah, also dass ich zuerst diesen riesigen Schlag durch irgendetwas ins Gesicht bekam, dann rücklings auf den Boden fiel und schließlich da lag. Im Nachhinein kommt mir das alles weniger sukzessive als vielmehr gleichzeitig vor. Ich lag da einfach herum, sozusagen mitten im Schlag und Fallen, und wusste, dass etwas passiert war, aber ich wusste nicht was. Ein Baseballschläger konnte es kaum gewesen sein. Es war alles dunkel, ich lag auf dem Boden bzw. mitten in einem Nichts und sagte mir, eben war noch alles gut, aber jetzt ist da irgendetwas Neues. Einfach eine Weile so daliegen, das wird das Beste sein.
Sich zusammensuchen.
Ich war, wie wir am nächsten Tag rekonstruierten, mit voller Wucht gegen einen Ast gefahren, der mich genau auf meiner Stirn getroffen hatte, besser gesagt, den ich genau mit meiner Stirn getroffen hatte. Es war ja alles schwarz um mich herum gewesen, was ich in dem Augenblick, auf meinen Lichtkegel fixiert, einfach nicht begriffen hatte (wir hatten uns noch am Ortsausgang befunden, kaum 15 Meter hinter der letzten Laterne). Diese schwachen östlichen Dorflaternen! Wussten sie nicht, dass Westdeutsche so dumm sind, dass sie denken, sie könnten überall aus dem Sattel gehen – auch nachts bei Neumond auf dem Südbrandenburger Land?
Genau das gleiche geschah, mutatis mutandis, am 21.12.14 um 18 Uhr 11. Ich wusste in dem Moment, dass etwas Grundlegendes passiert war. Mit »grundlegend« meine ich nicht, dass Udo Jürgens, ein Mensch, gestorben war. Als Mensch war er genauso wert und würdig wie du und ich, insofern ist sein Tod nichts anderes als bei allen. Ich wusste vielmehr, dass in dem Augenblick etwas für mich und für mein Leben passiert war.
Dass Udo Jürgens die letzten Jahre meines Lebens mitgeprägt hat, hätte ich vormals, vor der Verwandlung durch Nina, die Lehrerin aus dem Gießener Raum, nicht erwartet. Dass ich in den Weihnachtstagen 2014, apfelweinabgefüllt bis dorthinaus, seinetwegen mehrere Nächte auf der Bettkante sitzen und nachdenken würde, nachdenken über U.J., nachdenken über den toten U.J., hätte mir noch einige Jahre vorher keiner weismachen können. Ich kannte den Mann übrigens persönlich nicht. Als ich etwas klarer wurde, isolierte ich ein Gefühl in mir, um es analysieren zu können: eine – allerdings ziemlich diffuse – Dankbarkeit. Diffus, denn freilich ist durch diesen Begriff (»Danke, Udo!« riefen ihm ja viele hinterher) noch überhaupt nichts erklärt, und zunächst überraschte mich dieser Dankbarkeitsaspekt auch. Ich konnte ihn nicht einordnen.
Mal ganz ohne Kolumnen-Ironie-Maske gefragt: Wem sonst gegenüber hege ich dieses Gefühl der Dankbarkeit, ich meine unter allen, die mit Kunst und Künstlertum zu tun haben?
Einem meiner liebsten philosophischen Autoren gegenüber, Lukrez (ein Zeitgenosse Cäsars), kann ich solche Gefühle nicht hegen, dazu ist mir allein schon sein Leben zu fremd und zu weit weg. Ich habe keinerlei Vorstellung, unter welchen Umständen er sein Werk geschrieben hat und was es für ihn bedeutet haben könnte. Wenn es so gefühlig in Sachen Dankbarkeit wird, dann müssen die Personen schon zeitnäher gewirkt haben. Ich mache einfach mal eine Liste. Die wichtigsten: Dostojewski, Thomas Mann, Chaplin. Raabe, Stadler, Kurzeck. Hans Albers, Loriot, Paolo Conte, der frühe Ambros. Hannes Wader. Chaotisch, gell! Und Udo Jürgens gehört da für mich rein. Da gehört kein Frisch, kein Bernhard, kein Nick Cave, kein Gert Voss rein, weder Portishead noch Pink Floyd noch Tolstoi. Wieso da jemand reingehört und nicht, kann ich nicht so genau sagen. Vielleicht so: Die Wichtigsten waren alle Auslöser und Freischaufler für irgendetwas in meiner Person, und ich habe ihnen immer vertraut und bin nie enttäuscht worden. Ich rede nicht von den Personen, sondern von dem, was sie gemacht haben. Ich kenne unzählige Leute, die ziemlich genau wissen, dass Chaplin ein Arschloch gewesen sein soll, das wird über Thomas Mann ja auch gesagt, und über Paolo Conte höre ich manchmal auch nicht ganz so Gutes. Udo Jürgens halten auch nicht wenige für einen Schweinepriester. Aber bei dem, was sie tun und taten, konnte ich immer bleiben. (Das trifft freilich auch auf Lukrez zu, und dennoch bleibt er mir fremder als etwa Thomas Mann, den ich natürlich ebenso wenig kannte wie Titus Lucretius Carus, aber ich rede hier – glücklicherweise – ja sowieso von völlig irrationalen Dingen.) Sie wollten mich nicht verführen, wollten mich nicht verarschen. Das ging mir bei anderen ganz anders, aber das musste ich lernen.
Geh in die Kunst hinein, und einige werden dich beeindrucken. Gehe näher heran, dann sieht es schon wieder anders aus. Wie uncool ist denn Udo Jürgens gegen Nick Cave! Würde heute Nick Cave sterben, würde ich sagen: Oha! Mein Jahr ohne Nick Cave wäre allerdings nicht viel anders als ein weiteres Jahr mit Nick Cave. Würde ich seine Konzerte sehr vermissen? Hingepilgert zu ihm bin ich nie, nur immer hingegangen. Das war bei Udo Jürgens anders, seine Konzerte waren wichtigere Momente in meinem Leben. Vielleicht wäre das in 20 Jahren anders, wenn wir beide da noch leben, Nick Cave und ich. Das sage ich auch eingedenk der Tatsache, dass, wenn Udo Jürgens vor 20 Jahren gestorben wäre, ich natürlich nicht einmal »Oha!« gesagt hätte. Das wäre völlig an mir vorbeigegangen.
Aber wodurch wurde er wichtig? Es war ja nicht mein Ziel und Vorsatz, diesen Chansonnier und, in seinen kommerziellsten Augenblicken, Gassenhauer-Wodka-Trallala-Unterhalter Einzug in mein Leben halten zu lassen.
Unter anderem wurde er dadurch wichtig, dass ich begonnen habe – unabsichtlich, es geschah einfach so – über ihn nachzudenken, ihn zu einer Figur zu machen, die auf eine bestimmte Weise erzählt wird, hinter der ein bestimmtes Konzept von Welt steht. Die öffentliche Person Jürgens war für mich längere Zeit auch immer so etwas wie, sagen wir, die berühmte Filmfigur Hermann W. Simon aus Edgar Reitz’ Fernsehserie »Heimat«. (Man könnte als Beispiel auch Hans Castorp nehmen oder irgendeine andere Figur.) Über jenen Hermann kann man Jahre seines Lebens nachdenken, er begleitet einen, spiegelt einen, stellt einem immer wieder Fragen und liefert eine Erzählung über Welt und Gesellschaft, an der man sich selbst stets messen und so zu eigenen Begriffen kommen kann. Kurz und in einem heutigen Wort gesagt: Das Narrativ »Hermann W. Simon« ist ein bestimmter Weltzugang. So ist es auch mit Udo Jürgens.
Nur freilich ist die Udo-Jürgens-Erzählung noch nicht zusammengesetzt, noch nicht geschrieben, und ich kann hier auch nur Bruchstücke sammeln. Es geht hierbei natürlich nicht um eine Biographie. Mit einer Biographie ist, so seltsam das erst mal klingt, über Udo Jürgens eigentlich gar nichts erzählt. Er wird durch sie als Erzählung, als Konzept von Welt, ebenso wenig verständlich wie jeder von uns. Biografien liefern gar nichts. In ihnen ist zwar auch, eher versteckt, eine Erzählung enthalten, aber sie wird nicht frei erzählt. Dazu ist sie zu faktengebunden. Mein faktisch-biographischer »Wissensstand« über Udo Jürgens allerdings tendiert gegen null. So wie der Wissenstand der meisten Udo-Jürgens-Hörer und Nicht-Hörer. Und dennoch liefern wir die Erzählung. Wir sind er, und er ist wir, und so erst entsteht er, und so erst entstehen wir. Deshalb sind Gespräche so wichtig.
Was Udo Jürgens ist, war, wie er wirkte und als was er (und für was er) dasteht, das können wir nur in uns wiederfinden, den Lesern dieser Erzählung Udo Jürgens. Oder hermeneutisch besser gesagt: Wir müssen diese Erzählung erst konstruieren. Wir müssen über Udo Jürgens ins Erzählen kommen, um ihn zur Erzählung zu machen. Und in jeder Erzählung stecken wir drin. Es geht also immer auch um uns.
Das Gefühl, das ich sofort deutlich vernehmbar im Augenblick der Todesnachricht empfand und das so stark war, dass es sich sogar bei der sofort eintretenden Betäubung noch Aufmerksamkeit verschaffen konnte, war das der Empörung, der Ablehnung. Ja, ich saß in der Buchscheer und war empört. Als hätte aus verschiedenen Gründen das jetzt nicht passieren dürfen.
Warum nicht? Was ist der Grund der Empörung? Ich rede wie gesagt nicht über die allgemeine Empörung, die sich bei jedem Tod einstellt. Sondern ich rede von einer Empörung, die sich aus dem Wesen von Udo Jürgens heraus speist. Der Inhalt dieser Empörung lautete ja nicht: »Es ist auch bei Udo Jürgens empörend, wenn er stirbt«, sondern sie lautete: »Es ist empörend, dass ausgerechnet Udo Jürgens stirbt, jetzt und hier.« Irgendetwas an seinem Tod war also empörender als bei einem sonstigen Tod. Und der Grund hierfür kann nur in dem spezifischen Verhältnis der Figur (oder des »Narrativs«) Udo Jürgens zu eben genau diesem Thema Leben und Tod liegen bzw. zu unserem eigenen Leben und Tod.
Die Empörung ist nicht damit beschrieben, dass ein achtzigjähriger Mensch tot auf einem Spaziergang zusammenbricht. Das ist sogar alles andere als empörend, das ist je nachdem geradezu wünschenswert. Aber damit ist auch nur wenig erzählt. Das Empörende, das ich in der Sekunde der Todesnachricht empfand, liegt in etwas ganz anderem begründet.
Seitdem ich Reaktionen der Menschen auf diesen Tod sammele, weiß ich natürlich, dass dieser Tod auch für viele andere so war wie für mich. Es war ein besonderer Tod. Ich meine wiederum nicht: den Tod beim Spaziergang. Sondern den Tod dieser Person in diesem Moment. Auch für viele andere war es so, als hätte genau dieser Tod nicht geschehen dürfen bzw. können. Als sei das quasi wider die Naturgesetze. (Seltsam, nicht! – bei einem achtzigjährigen Menschen!)
Ich habe an anderer Stelle geschrieben, dass Udo Jürgens immer ein Axiom war, etwas, das in unser aller Leben immer vorausgesetzt werden konnte, da er ja immer da war, egal ob man etwas mit ihm zu tun hatte oder nicht. Jeder konnte ihn in seinem Leben jederzeit »aktualisieren«, d.h. zur gegenwärtigen Existenz für sich bringen. Ich habe Udo Jürgens ja auch erst vor einigen Jahren »aktualisiert«, vorher war er immer nur als bloße Möglichkeit im Raum, amorph und für mich noch in keine Struktur eingebettet, die etwas mit mir zu tun gehabt hätte (abgesehen von gewissen Kindheitserinnerungen an Siebzehn Jahr blondes Haar usw.).
Für mich war Udo Jürgens in den letzten Jahren beispielsweise eine Erzählung über die Medien. Auf den ersten Blick reiner Mainstream. Ging man aber zu seinen Konzerten, wusste man, dass er ein besonderes Publikum hatte, das seinetwegen kam (= kein Mainstream). Aber wenn man ihn in Fernsehshows vor großem Gala-Publikum in den siebziger Jahren sah, wo das Publikum sich mehrere Künstler (die ganze übliche Schlagerriege) anhören durfte, weil das so Programm war, dann machte er für dieses eingekaufte Publikum aus dem Anhören-Dürfen mitunter ein Anhören-Müssen. Da saßen dann die alten Herren in ihren alten Anzügen, die sicherlich nach Zigarren rochen, daneben die entsprechende Frau, ein typisches Blauer-Bock-Publikum, und sie wollten sich doch nur eine Silvester- oder sonst eine Gala mit deutschen (deutschsprachigen) Stars anhören, weil sie dafür über irgendwelche Kontakte Karten bekommen hatten (»Else! Wir dürfen zur großen ZDF-Gala!«), und Udo Jürgens nutzte die Situation radikal aus und sang ihnen mit seinen Texten Dinge ins Gesicht, die sie in dem Moment bestimmt nicht erwarteten. Aber niederbuhen konnten sie ihn ja nicht, das gab der Rahmen nicht her, und sie waren ja sowieso völlig absorbiert von dem »Glück«, bei dieser Gala (im Fernsehen!) anwesend sein zu dürfen, welche Ehre, also klatschten sie und merkten vielleicht auch gar nicht mehr, was sie da gerade beklatschten. Genial! Udo Jürgens, der Therapie-Gift-Streuer. Es gibt überhaupt niemanden in unserer Medienwelt, der eine solche Position innegehabt hätte. Einen Biermann hätten sie da ja niemals hingesetzt vor das Gala-Publikum. Genauso wenig, wie sie Udo Jürgens jemals in den Deutschen Bundestag gesetzt hätten. Denn Udo Jürgens ist wiederum einer, der nie die Mode der diversen Polarisationen mitmachte. Man muss ja immer für etwas stehen im Medienzirkus und in der Manege der Öffentlichkeit. Jeder Gladiator muss seine bestimmte Waffe, seine bestimmte Kampfart haben. Der eine mit Dreizack und Fischernetz, der andere mit Helm, Schwert und Schild (siehe Asterix). Dann hat man seine Nische. Wofür stand aber Udo Jürgens? Was genau war denn seine Marke, sein Branding (ich meine natürlich nicht den Bademantel)? Wo andere in ihrem vorvergangenen Leben am besten Leichenwäscher oder irgendetwas anderes vermeintlich Spektakuläres waren und das auch brav in ihre Biographie reinschreiben, wo andere die Lords der Dunkelheit geben oder die Strahlemänner des Ballermanns oder des Bierzelts, wo andere mehr oder minder ehrliche (authentische?) Kämpfer im politischen Sektor waren und dafür standen, was war denn zwischen all denen Udo Jürgens? Nicht festschreibbar. Und das ist auch so eine Udo-Jürgens-Erzählung und somit eine Erzählung über unsere gesamte Öffentlichkeit und wie sie funktioniert: Udo Jürgens war genau das eine und einzige Gegenbild zu dieser Öffentlichkeit innerhalb dieser Öffentlichkeit. Indem er mitten in den Medien und der Öffentlichkeit stand, stand er zugleich über beiden und auch neben beiden. Wie in einem Ja immer ein Nein sichtbar wird, als Gegenteil, und umgekehrt in einem Nein immer das Ja, so stand Udo Jürgens immer quer und mittendrin zu allem und blieb, medientechnisch gesehen, amorph und hatte keine Nische. Der Elder Statesman der Unterhaltungsindustrie. Über Nick Cave sagt keiner, er sei eben Nick Cave. Nick Cave ist immer dies und das (dunkel, intelligent, abgründig). In der großen Öffentlichkeit ist Nick Cave übrigens immer bloß der, der mit Kylie Minogue gesungen hat. Das ist seine öffentliche Schlussreduktion: Der Sänger der Düsternis, der mit Kylie Minogue sang. Meine Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz hat auch ihre öffentliche Erzählung weg. Die geht ganz einfach: schwarz, Witwe. Mein berühmtester Auftritt war ebenfalls eine bloße öffentliche Erzählung über mich (und zwar in der Bild-Zeitung). Es ging um ein Schloss in Potsdam. Seitdem werde ich manchmal allein an der Potsdamgeschichte erkannt: »Ach, sind Sie nicht der Schriftsteller, der das Schloss in Potsdam haben wollte?«
Aber bei Udo Jürgens streckten sie allesamt irgendwann die Waffen und sagten, Udo Jürgens sei eben Udo Jürgens. Er war hors catégorie, und das nicht einmal aus Verweigerungshaltung. Er war ja kein Verweigerer. Er ist nur eben das völlige Gegenbild zu dem, wie Öffentlichkeit funktioniert, und genau das ist Udo Jürgens’ Erzählung über Öffentlichkeit. Er stand, das wissen wir alle, für sehr viel, aber in den Medien stand er für nichts bzw. alles. Er war nicht greifbar. Ein Luftgeist wie Ariel.
Ein anderer Aspekt: Udo Jürgens war für uns, ob wir es wahrhaben wollten oder nicht, auch immer eine Erzählung über Leben, Vergänglichkeit und Ewigkeit. Mit Ewigkeit meine ich nicht Jugendlichkeit. Ich meine nicht den ewig schlanken und virilen Nick Cave, der sowieso erst Anfang der achtziger Jahre in unser Leben trat. Sondern dieses eigentümlich Axiomatische an Udo Jürgens: dass er einfach immer da war, selbst wenn er gar nicht aktualisiert war. Schlicht gesagt: Man konnte immer zur Bibel greifen, man konnte aber auch immer zu Udo Jürgens greifen. Man musste auch nie Fan sein. Aber man war immer unverlassen. Und wenn man sich das Leben erzählte dadurch, dass man sich Udo Jürgens erzählte, war die Erzählung immer offen, unabgeschlossen, als sei Ewigkeit in sie hineinverwoben und als sei diese unauslöschlich. Und man ist immer davon ausgegangen, dass das einfach so da ist und immer so bleibt, und der körperliche Eindruck, den Udo Jürgens am Ende machte, war ja absolut dazu angetan, einem zu suggerieren, dass man sich vorderhand überhaupt noch gar keine Gedanken um irgendetwas machen müsste.
Das sind aber, wie gesagt, nur narrative Bruchstücke. Das Skandalon dieses Todes war vielleicht, dass mit Udo Jürgens die Person starb, der wir unter allen Lebenden in unserer Erzählung über die Welt immer am meisten getraut haben und die wir zugleich auch mit sehr vielem von uns beladen konnten. Als sei er ein notwendiger Teil unserer selbst gewesen. So gesehen starb also an jenem Tag in jedem von Udo Jürgens Zeitgenossen ein Teil ihrer selbst, nämlich der Udo-Jürgens-Teil in uns, auf dessen Dasein wir immer vertraut hatten, ohne es je zu begreifen. Das Offene und Allgemeine ist nun fort. Wir können es mit niemandem weitererzählen. So offen und allgemein wird uns niemand mehr zur Verfügung stehen.
Wir begriffen es in dem Moment. Und das war, glaube ich, für viele der Grund für diesen Schock. Die Offenheit und Allgemeinheit, die Udo Jürgens für uns liefern konnte und die wir mit ihm herbeierzählten, verschwand in diesem Augenblick und ließ uns allein. Zurück bleibt die übliche, in unendlich viele Teile zersplitterte, uneinheitliche Welt, die uns zu Entscheidungen zwingt, ohne uns je von ihnen zu entlasten.