Es hätte so weitergehen können, ja, im Grunde ein Leben lang. Wir hätten da sitzen bleiben können, uns jeden Tag stundenlang Texte anhören können, und mit der Zeit wäre die Zeit aufgehoben worden und jeder einzelne der Vorlesenden und wir selbst auch wären aufgegangen in einer sich immer größer heranbildenden Textmasse, und am Ende hätten wir nur noch in Texten gelebt in diesem Saal in der Karl-Marx-Straße in Berlin. Man hätte die Welt draußen komplett verloren und vergessen, denn man braucht sie ja eigentlich gar nicht, wenn man nur die Fiktion aufrechterhält, oder hier wäre besser zu sagen: die Organisation. Es wäre natürlich sehr geldintensiv, aber davon bekommt man als Teilnehmer und auch als Juror nichts mit. Der Tagesablauf wäre dann: Aufstehen im Hotelzimmer, sich dem Mittag entgegenfrühstücken, dann die ersten Leserunden, man sitzt da im gedämpften Licht des leicht rötlich ausgeleuchteten Saals, vorne kommen Menschen auf die Bühne und gehen wieder, dann Pause, man trinkt etwas, wieder Hören, dann wird irgendwann ein Essen hingestellt, eigentlich ähnlich wie im Gefängnis, dann hört man wieder, macht sich Notizen, denn am Ende soll ja ein Gewinner feststehen, aber ich denke, nach einigen Wochen macht man die Notizen nur noch so, eher mechanisch, und es zeigt sich immer mehr, daß hier niemals ein Gewinner ermittelt werden wird, sondern daß sich hier eine Welt noch einmal erzeugt, eine Welt der reinen Immanenz, in der man dann aber auch leben kann, vor allem, wenn sie niemals mehr enden wird. Nach einigen Monaten wird man sich vorkommen wie eine geweihte Person, man wird beginnen, den täglichen Gang in den Saal für einen Dienst an etwas zu halten, man wird zusehends verklärt, es wird sich eine gewisse Kleiderordnung herausstellen, sie wird sich unbewußt vereinheitlichen, und irgendwann in Jahren wird der Moment kommen, an dem man gar nicht mehr merkt, daß man tut, was man tut, weil es einem zur vollkommenen eigenen Natur geworden sein wird, das Lesen und Hören von Texten, täglich, und keine Welt mehr herum, und man kann sich gar nicht mehr vorstellen, daß es je anders sein könnte. Ich glaube, in dieser Phase würden auch einige alte, längst abgelegte Gewohnheiten wieder zurückkehren, man würde sich wieder alltäglicher kleiden, man würde vielleicht sogar manchmal auf die Straße hinausgehen, und auf den ersten Blick würde man eigentlich wieder so aussehen wie alle da draußen, nur ein bißchen blasser vielleicht und ein bißchen dünner, nur werden wir dann alle diese Aura um uns herum haben, eine winzige, leuchtende Kontur, an der wir uns erkennen werden. So wie es ja auch derart tief gebundene religiöse Existenzen gibt, daß sie schon wieder gar nicht auffallen, denn ihre innere Angebundenheit an eine ganz andere Sphäre muß bei ihnen nicht mehr zum Ausdruck kommen, und sie haben ihren Frieden mit der Welt gemacht und können sich in ihr bewegen, einfach so, als gingen sie in Gott. Und das tun sie ja auch.
Die Außenstehenden würden angesichts des Heimathafens Neukölln sagen: Schaut euch diese Subventionierten an! Sie sitzen Tag für Tag da drin und machen nichts anderes als lesen und hören und lassen sich ihr Essen hinstellen, und alles ist ihnen aus der Hand genommen, alles wird für sie gemacht vom Organisationsteam des Open Mike. Sie leben in völliger Fremdversorgung und in vollkommener Unselbständigkeit. Aber mit der Zeit würden sie sich doch immer mehr zugeben müssen, wie sehr unser Leben Klosterexistenzen ähnelt. Wir nehmen ja alle Abstand von unserer eigenen Person. Wir können plötzlich stillsitzen. Wir agieren nicht mehr. Wir bewegen uns in einem winzigen räumlichen Rahmen, immer am selben Ort. Wir kommen jeden Tag wieder zusammen. Und wir sind an das Wort gebunden und an den Glauben an es, denn in seinem Namen kommen wir jeden Tag zusammen in unserer selbstgewählten Klause, unserem täglichen Konvent.
Wir müssen das nur durchhalten, und irgendwann wird der Neuköllner Heimathafen zu einer Kirche geworden sein, zu einem sakralen Ort, und Pilger werden zu uns kommen, um nur einen Blick auf uns zu werfen, wie wir täglich an diesem von ihnen inzwischen als heilig angesehenen Ort aus und ein gehen. Drinnen ist Wortgottesdienst, und nur in der kompletten Fremdversorgung, wie im Kloster, wo der eigene Wille aufgehoben ist in einem Ja zu einem großen Ganzen, ist uns dieses Textleben möglich, in dem das Wort sich selbst besingt, um die Welt aufzuheben.
Dann wird verstanden sein, was das war: Literatur. Und dann ist sie die Welt selbst geworden in jenem Saal im Heimathafen in Neukölln. Für uns. Die wir dasitzen und hören und uns Notizen machen und dasitzen und hören und dasitzen und hören. Und für die draußen vor dem Saal, die schon lange an uns glauben und deren Heilige wir geworden sein werden, wird die Welt verwandelt sein, und im Paradies wird es sich erfüllt haben.
Und weil das alles tatsächlich so wäre, ist der Open Mike zeitlich auf zwei Tage beschränkt und findet nur einmal im Jahr statt, was man schade finden kann, aus den oben angegebenen Gründen. Vielleicht verstünden alle Beteiligten besser, um was es eigentlich geht, wenn sie diese Kirche machen würden, diese Textkirche.
Der Unterhalt der Open-Mike-Kirche und seiner Gemeinde würde den Steuerzahler auch nicht mehr kosten als der Unterhalt eines gewöhnlichen Gefängnisses, der Preis wäre, so gesehen, gar nicht so hoch.
Mir ist übrigens schon nach diesen zwei Tagen aufgefallen, daß im nachhinein jeder der gelesenen Texte seiner Berechtigung bekommen hat, nicht für sich selbst genommen, sondern als Textbaustein an diesem zu errichtenden Großen und Ganzen. Je mehr also dort läsen in der Open-Mike-Kirche im Heimathafen Neukölln, desto mehr würde alles zu seiner Berechtigung kommen, so wie Jesus die Christen gelehrt hat, jeden und gerade den Geringsten unter uns zu achten und zu lieben, und wir machen das dann eben mit den Texten. Daß es einen Sieger geben müsse, das war eben nur der erste Bund. Nur so konnte das Wort in die Welt kommen, ähnlich dem auserwählten Volk Israel, das ja auch als eines unter vielen die Zusage bekam. Der neue Bund aber kennt keinen Sieger mehr, er kennt nur noch das Ja und die Liebe, und erst in dem großen, ausgesprochenen Ja, in dem jeder das Einzelne, Singularisierende verliert in seiner Liebe zum Wort und seinem zum eigenen Wesen gewordenen Wunsch, die Welt möge ganz Wort geworden sein, und in der täglich in Neukölln vollzogenen Praxis des gesprochenen und gehörten Wortes, wäre jedem von uns die gleiche Wertschätzung zugesichert.
Und das Wort hätte sich erfüllt.