Am 23. April 2017 wurde zum Welttag des Buches in Ortenberg/Baden ein »Offener Bücherschrank« eröffnet, konstruiert vom Kölner Architekten und Stadtplaner Hans-Jürgen Greve, dem Vater dieser Schränke. Initiiert wurde das Projekt von der ortsansässigen Gertrud-von-Ortenberg-Bürgerstiftung. Andreas Maier steuerte folgenden Text bei, der an der Seite des Bücherschranks angebracht wurde. Torsten Sälinger, Vorsitzender der Stiftung, schrieb dazu, damit sei der »Offene Bücherschrank« in Ortenberg der erste, der nicht nur ein Ort für Literatur sei, sondern für den selbst Literatur entstanden sei: »Ein Essay über den Zufall der Begegnungen mit Büchern und das Weiten des eigenen Horizontes in Zeiten der Internetblasenbildung und Echoräume.«
Ich habe nie ein Buch im Internet bestellt. Es gibt da Algorithmen, mit denen errechnet wird, was du wohl gern lesen würdest bzw. was dir »gefallen könnte«. Und zwar auf der Grundlage dessen, was du bereits gekauft hast. Du wirst sozusagen verschrotet und an dich selbst zurückverfüttert. Mich hat das immer an Tiermehl erinnert.
Es gibt aber auch das genaue Gegenteil von Algorithmus-Selbstverfütterung, nämlich den öffentlichen Bücherschrank. Ich mag diese Erfindung. Sie ist der Tatsache geschuldet, dass seit dem letzten Krieg sowieso viel zu viele Bücher gedruckt wurden. So geht es ja auch den Schallplatten: Es gibt überall viel zu viele. Aber das macht den Bücherschrank nicht schlechter, er versucht ja nur, mit dieser Tatsache umzugehen. (Es macht übrigens die Bücher und Platten auch nicht schlechter.)
Ich habe im letzten Jahr an mir beobachtet, dass ich a) ziemlich viele Bücher aus den beiden Bücherschränken in meiner Umgebung (einer steht in der Frankfurter Dreieichstraße, der andere auf dem Platz vor dem Konservatorium im Frankfurter Ostend, in Hamburg habe ich noch keinen gefunden) gelesen habe, und dass ich b) Bücher gelesen habe, die ich sonst wahrscheinlich nicht gelesen hätte. Ich bin natürlich kein Chaos- oder Querbeetleser, aber diese Bücherschränke erweitern mich sozusagen ständig an meiner Peripherie. Da trifft völliger Zufall auf meinen persönlichen Kanon, und die Arbeit, die ansonsten der Algorithmus erledigt (aber immer, ohne dir etwas hinzuzutun, er arbeitet ja auf universale Gleichförmigkeit hin), leistest du selbst. Denn erstens kennst du dich besser als das Internet dich, und zweitens willst du ja in Wahrheit gar nicht das haben, was dir gefallen könnte. Sondern du willst ja weiterkommen.
Gehe ich in einen Buchladen, habe ich eine genaue Vorstellung, was ich kaufen möchte, zum Beispiel Anthony Powell, Ein Tanz zur Musik der Zeit, Band 8, Elfenbein Verlag. Trete ich dagegen vor einen Bücherschrank, habe ich im Gegensatz zum Besuch eines Buchladens gar keine Vorstellung, aber eine sehr begrenzte Auswahl an Möglichkeiten, die aus bloßem Zufall und sonst aus gar nichts besteht. Das führt dazu, dass ich in den letzten Monaten wieder mehr Brecht gelesen habe oder das Bändchen der edition suhrkamp In der Sache J. Robert Oppenheimer von Kipphardt, ein bisschen Werfel, die Lebenserinnerungen von Katja Mann oder etwa – völlig unerwartet – Das Boot von Buchheim. Zumindest bei letzterem bin ich mir sicher, dass ich es ohne einen Bücherschrank nie gelesen hätte. Ich hätte es weder im Buchhandel gekauft noch wäre es mir je von einem Algorithmus vorgeschlagen worden.
Ich wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen.