Im August 2018 erscheint André Georgis Thriller Die letzte Terroristin. Der Thriller wird anschließend unter dem Titel Der Mordanschlag auch als TV-Zweiteiler zu sehen sein. Entstanden sind beide Fassungen parallel – der Autor gewährt an dieser Stelle Einblicke in seine Werkstatt.
Filmfest München, im Sommer 2018. Das Kino ist voll, eine Branchenveranstaltung plus schmoozing. Konkurrenz, Nervosität, Kleidchen mit wenig Kleid, Anzüge mit viel schwarz, gut gekühltes Wasser, man sagt hier »mit Gas«, kein Popcorn: Die Premiere des ZDF-Zweiteilers Der Mordanschlag. 180 Minuten RAF, Treuhand, Wende.
Ein paar Reihen vor mir sitzt Petra Schmidt-Schaller. Sie war die erste, die vor anderthalb Jahren zugesagt hatte, die RAF-Terroristin Sandra Wellmann zu spielen, meine »letzte Terroristin«. Die Drehbücher waren fertig, der Roman aber, den ich parallel zu den Drehbüchern schreiben wollte – Die letzte Terroristin – dümpelte irgendwo im ersten Viertel vor sich hin, weil ich ihn einem komplizierten Leben als Drehbuchautor abtrotzen musste. Dann weitere Zusagen, Ulrich Tukur, Maximilian Brückner, Jenny Schily. Dann die Drehorte, schließlich Fotos der Inneneinrichtungen und der Kostüme. Der Roman hatte immer mehr Mühe, sich gegen den Film zu wehren.
Nein, der BKA-Ermittler Kawert wäre ohne Maximilian Brückner kein Bayer gewesen. Ja, Sandra wäre ohne die Kostümbildner wahrscheinlich anders gekleidet gewesen. Und eine spätere Generation von LiteraturwissenschaftlerInnen wird möglicherweise feststellen, dass diese besonders gründliche Romanverfilmung sogar die Reclam-Hefte im Arbeitszimmer von Dahlmanns Bonner Villa, die der Roman beschreibt, übernimmt. Eine Arbeitshypothese könnte allerdings auch sein, dass der Romanautor in den sakralen Ort der Filmproduktion, den Schneideraum, zur Rohschnittbeschau gebeten wurde.
Ein paar Stunden vor der Premiere habe ich Petra Schmidt-Schaller zum ersten Mal getroffen. Ein Presseessen. Sie kommt einen Tick zu spät, weil die Bahn einen Personal- oder sonstigen Schaden hatte, reicht mir die Hand, ich drücke. Es ist wie immer in Anwesenheit von Schauspielerinnen und Schauspielern: Der Autor ist plump, gerade heute besonders gut genährt, sehr wenig ätherisch und hat irgendwie Angst, was kaputt zu machen. Es folgt Smalltalk mit Betonung auf »small«, wer nach Subtext sucht, panscht lange vergeblich im Schlamm und findet irgendwann vielleicht dann doch das Schlüsselchen zum Kern dieser grundsätzlich nicht einfachen Beziehung von SchauspielerInnen und AutorInnen: Hab ich die Figur erschaffen oder Du? Der Autor mit dem kräftigen Händedruck ist parteiisch. Mit den Worten des Dichters: »Madame Bovary – c’est moi!«
In einem Drehbuch sind die Sätze zwischen den Dialogzeilen kurz und spröde, äußere Abläufe in Realtime, Gebrauchsanweisungstexte, adressiert an Hände und Füße. Im Roman habe ich mich am Dialog des Drehbuchs entlang gehangelt und ihn übernommen. Aus den Gebrauchsanweisungen aber wurde Prosa, die sich für anderes als Hände und Füße interessiert.
Im Schneideraum habe ich zum ersten Mal die Garagenszene gesehen: Im Halbdunkel telefoniert Sandra von einem Funktelefon aus mit ihrer Vergangenheit, die auch ihre Zukunft sein soll (eine sülzende Formulierung zur Spoilervermeidung). Zwischen Benzinmief und Motten verliert sie völlig den Halt und alles, was sie und ihre Welt im Innersten zusammenhält. Deepest shitpoint. Ich habe den Dialog gehört, den ich geschrieben hatte. Zwischen diesen Dialogsätzen aber – neben, unter, über ihnen oder wo auch immer – zerfällt Sandras Leben auf Petra Schmidt-Schallers Gesicht. Was sie dort macht, ist Magie und eines der größten Geschenke, die ich in meinem Autorenleben bekommen habe. Fortan konnte es keinen Unterschied mehr zwischen Sandra und Petra Schmidt-Schaller geben. Ab jetzt ging es nicht mehr um die Farbe von Sandras Pulli oder welche Bücher in welchem Regal stehen. Die Momente zwischen den Dialogen, der selbstbestimmte Ort der Prosa, waren plötzlich durch das Gesicht einer Schauspielerin besetzt, der sich meine Sandra an den Hals geworfen hatte. Vor mir lagen noch zweihundert weitere Romanseiten.
Im Kino sitzt der Regisseur neben mir. Aber weil die Tonaussteuerung im Kino anders als im Fernsehen ist, muss er mitten im Film an die Regler des Tonpults. Der Platz links neben mir wird also frei. Ich weiß nicht warum und wo sie her kam – aber nach einer Weile setzt sich Petra Schmidt-Schaller neben mich.
Kurze Zeit später läuft die Garagenszene.
Theaterschauspieler müssen auf der Bühne brennen wie eine Fackel, damit im Publikum das Glimmen eines Streichholzes ankommt. Ein Kino aber ist etwas anderes als ein Schneideraum, und eine brennende Fackel wirkt hier wie ein loderndes Feuer. Vor allem aber ist der Unterschied zwischen Brennen und Verbrennen plötzlich nicht mehr klar. Das ist der Ort, an dem das wirkliche Schauspielen wohnt. Und zugleich auch der Ort des wirklichen Schreibens. Für Situationen wie diese hält der moderne Mann immer ein paar Tränchen zum Löschen bereit.
Ich schaue zur Seite, Sandra Wellmann sitzt neben mir und lächelt mir mit Petras Augen zu.
Madame Bovary?
Das sind wir.