Die Buchläden in Ulaanbaatar sehen aus wie die Buchläden in Berlin-Mitte. Auf den Tischen am Eingang stapeln sich hüfthoch die Autobiografien von Hillary Clinton und Alex Ferguson. Daneben gebundene Ausgaben von E. L. James, Veronica Roth, Haruki Murakami und Stieg Larsson. Die Klassikerausgaben sind auf den ersten Blick an der Lederoptik zu erkennen. Es handelt sich um Neuübersetzungen von Tolstoi, Dostojewski und Jules Verne. Zuletzt außerdem sehr erfolgreich: Der Vorleser von Bernhard Schlink. 2013 auf Mongolisch erschienen, wurde das Buch im September positiv besprochen und stand daraufhin wochenlang auf der Bestsellerliste.
Zum Anteil der Übersetzungen an den jährlichen Neuerscheinungen gibt es keine offiziellen Zahlen. Mein Chef in einem der zwei größeren Verlage des Landes schätzt, er liege bei über 70 Prozent, wobei die Übersetzungsplagiate dabei noch gar nicht berücksichtigt seien. Vielleicht ist das etwas hoch gegriffen. Der genaue Prozentsatz hängt letztlich davon ab, wie viele der im Selbst- und Kleinverlag publizierten Lyrikbände man einbezieht. Aber er wird in jedem Fall sehr groß sein. Zum Vergleich: Laut Börsenverein des Deutschen Buchhandels lag der Anteil der Übersetzungen an den Neuerscheinungen in Deutschland letztes Jahr bei 11,4 Prozent.
Die erste Welle von Übersetzungen ins Mongolische fand nach der Revolution der Jahre 1921 bis 1924 statt. Die Mongolei wurde damals zum zweiten kommunistischen Staat der Erde. In den nächsten sechseinhalb Jahrzehnten wurden nicht nur Marx, Engels und Lenin ins Mongolische übersetzt, sondern auch Tolstoi, Dostojewski, Melville, Twain, London, Hemingway, Márquez und andere (moderne) Klassiker. Staatliche Vorgaben hinsichtlich der zu übersetzenden Literatur gibt es seit der demokratischen Revolution von 1990 nicht mehr. Das lässt den Verlagen mehr Freiheit, stellt sie aber auch vor Herausforderungen. Denn mit den Vorgaben sind auch die Fördermittel abgeschafft worden.
Um eine gute Übersetzung herzustellen, muss ein mongolischer Verlag den gleichen Aufwand betreiben wie ein deutscher Verlag. Der Markt, auf dem er die Kosten wieder erwirtschaften kann, ist jedoch 40-mal kleiner als der deutschsprachige. Erstauflagen liegen hier in der Regel bei 500 Exemplaren. Darunter nehmen die Druckereien keine Aufträge an. Eine Buchpreisbindung oder vergleichbare Mechanismen, die Buchhandlungen und Verlagen das Überleben erleichtern, gibt es nicht: Letzten Herbst bot eine Großbuchhandlung 72 Stunden lang ihre Bücher um bis zu 72 Prozent reduziert an. Die Schlange vor dem Laden reichte schon früh am Morgen bis auf den Gehsteig.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Das hat natürlich Konsequenzen. Zunächst sind die Honorare, die Verlage ihren Übersetzern zahlen können, gering. Sie liegen je nach Sprache und Schwierigkeit des Textes bei umgerechnet fünf bis zehn Euro pro Normseite. Verglichen mit dem Einkommen eines Streifenpolizisten oder einer Lehrerin, die mit umgerechnet 300 bis 500 Euro monatlich auskommen müssen, ist das gar nicht so schlecht. Gemessen an den Lebenshaltungskosten in Ulaanbaatar ist es aber immer noch sehr wenig. Die Mieten liegen, je nach Viertel, nur wenig unter denen in Friedrichshain oder Kreuzberg. Lebensmittel wie Obst und Gemüse sind häufig sogar teurer als in Deutschland. (Alles, was importiert werden muss, ist vergleichsweise teuer, und im Grunde müssen nur Fleisch, Milch, Wolle und Kohle nicht importiert werden.) Entsprechend schwierig ist es, gute Übersetzer zu finden. Wer im Ausland studiert hat und über die notwendigen Sprachkenntnisse verfügt, ist auch in anderen Branchen begehrt, die oft mehr zahlen können.
Zweitens überlegt sich jeder Verlag drei- oder viermal, welche Übersetzungsprojekte er angeht. Übersetzt wird letztlich, was sich finanzieren lässt. Das sind zum einen Klassiker, deren Namen bereits bekannt sind und für deren Werke keine Lizenzgebühren mehr anfallen – je mehr der Mongolische Tögrög gegenüber anderen Währungen an Wert verliert, desto stärker fällt Letzteres ins Gewicht. Und das ist zum anderen Bestsellerliteratur aus dem englischen Sprachraum plus Larsson und Murakami. Hinzu kommen einzelne Autoren, für deren Übersetzung sich private Geldgeber einsetzen. So unterstützte die Stiftung für liberale Wirtschaft (Либерал эдийн засгийн сан) die Übersetzung mehrerer Werke Ayn Rands. Hinter der Stiftung steht ein mongolischer Unternehmer, der in den Neunzigern durch die Privatisierung staatlicher Getreide- und Bäckereibetriebe reich geworden ist.
»Ökonomische Zensur« gibt es anderswo natürlich auch. Aufgrund des sehr kleinen Marktes und der fehlenden staatlichen Förderung fällt sie in der Mongolei jedoch besonders streng aus. Wer sie umgehen will, braucht entweder viel Enthusiasmus, eine Querfinanzierung oder eine Förderung durch ausländische Institutionen wie das Goethe-Institut, die Alliance Française oder die Japan Foundation. Das ist die dritte Konsequenz: Ob heute ein Buch wie Kleists Michael Kohlhaas oder Botchan von Natsume Sōseki ins Mongolische übersetzt wird, hängt auch davon ab, ob eine Förderung zustande kommt oder nicht.
So viel zu den Schwierigkeiten der Arbeit bei einem mongolischen Verlag. Natürlich gibt es auch Vorzüge. Der erfreulichste besteht darin, dass sehr viel gute Literatur noch nicht ins Mongolische übersetzt ist. Mit einer Mischung aus Querfinanzierung und Förderungen will der Monsudar Verlag daran möglichst schnell möglichst viel ändern. Bislang sind zwei Titel in unserer neuen Buchreihe Monsudar Literatur (Монсудар утга зохиол) erschienen: Kleists Michael Kohlhaas und Voltaires Candide. In diesem Monat werden sieben weitere Titel folgen, darunter Ein Zimmer für sich allein von Virginia Woolf, der Lumpenroman von Roberto Bolaño und Wie das Blatt sich wendet von Mo Yan. Der Fokus liegt auf internationaler Erzählliteratur und Essayistik. Um die Kosten in Grenzen zu halten, beschränkt sich die Reihe vorerst auf Werke von maximal 200 Seiten.
Nummer eins der Reihe, Michael Kohlhaas, wurde auf der Buchmesse im September vorgestellt. Im Gegensatz zu den Buchläden sehen die Buchmessen in der Mongolei tatsächlich etwas anders aus als in Deutschland. Sie dauern nur zwei Tage und finden im Freien, auf dem zentralen Süchbaatar-Platz statt. Verlage und Buchhandlungen präsentieren ihre Bücher in offenen Zelt-Pavillons, statt Lese- und Diskussionsveranstaltungen gibt es laute Musik und 20 bis 50 Prozent Rabatt auf alles. Die Standmiete beträgt umgerechnet 80 Euro. Dafür kümmern sich die Organisatoren darum, die interessierte Landbevölkerung mit Bussen in die Hauptstadt zu bringen.