Mit dem Projekt »Feminismen: Wie wir wurden, wie wir leben, was wir sind« von Thomas Meinecke und Antje Rávic Strubel setzen Logbuch Suhrkamp und S. Fischer Hundertvierzehn ihren im vergangenen Jahr begonnenen Austausch fort. Am 17. Juni erschienen die beiden Eröffnungsessays Wie ich Feminist wurde von Thomas Meinecke und Hart am Wind von Antje Rávic Strubel. Am 25. Juni fand eine kommentierende Gesprächsrunde in Form eines Chats statt, an der u. a. Jörg Albrecht, Paul Brodowsky, Olga Grjasnowa und Senthuran Varatharajah teilgenommen haben. Das Projekt wurde mit Essays von Rosa Liksom, Annika Reich & Katharina Grosse, Isabel Fargo Cole, Inga Humpe, Marion Detjen und Rachel Cusk fortgesetzt. Im heutigen Beitrag denkt Alexander Kluge über die weibliche Natur Napoleons nach.
Am Anfang
Zum Jahreswechsel 1799 auf 1800 war Bonaparte gerade sechs Wochen als Erster Konsul im Amt. Im Vorgriff auf seinen Nachruhm, so wie man einen Kredit aufnimmt, hatte eine Öffentlichkeitsmaschine diese einzigartige Erscheinung in ein vorteilhaftes Licht gesetzt. Die Phantasien der Lesewelten waren schon zuvor erregt worden durch die Italienzüge und das Ägypten-Abenteuer.
Es gibt kein authentisches Bild des Ersten Konsuls. Was David später an Gemälden und Porträts liefern wird, ist ein Idol, ein Propagandabild nach Bedarf.
Eigentlich entsteht Napoleon in den Köpfen der französischen Bauern, die ihn nicht persönlich kennen, und außerdem bei den Lesern in Europa als Marmorstatue: das Bild eines klugen antiken Kindes. »Ein Kind, das wiederkehrt«. Ja, so etwas hat es schon gegeben als Verheißung. Nämlich, daß ein Zeitalter jung anfängt. Die Leute laufen in Massen aus dem Maul des Kronos heraus, an der tödlichen Zahnreihe des Gottes entlang. Ein BERITTENER ENGEL begleitet sie. Das war das KAPITAL BONAPARTES, in Marktpreisen nicht ausdrückbar, das er verspielte.
Das ruhige Auge der Mutter
Tief im Innern des »kleinen Korporals« (dieses »Innere« könnte man in seinem Innersten nicht finden, es umschwebt ihn) blicken die ruhigen Augen seiner Mutter. Insofern sieht es der Freiherr vom Stein ganz richtig, wenn er Napoleon für ein »Weib« hält. Besser hätte er von einem »bewaffneten jungen Mädchen« sprechen sollen. Keine Chance, dem Ersten Konsul einen Bart um das Gesicht wachsen zu lassen. Wenn es ein Maler versuchte, um ihn Gottvater Zeus anzunähern, ein Propagandabild zu gestalten, würde der Konsul die Skizze davon zerreißen. Die schmalen Hände sind zum Greifen eines Schreibwerkzeugs besser geeignet als zum Führen eines schweren Säbels. Schließt man mit Lavater von der Hand auf das Hirn, könnte man von einem FILIGRANEN CHARAKTER (im Gegensatz zu einem Kraftprotz) sprechen. Was erhoffte sich die aufmerksame Briefeschreiber- und Leserschaft Europas vom Ersten Konsul, was erwarteten die jungen Empörer und Catilinarier aus Kleists Generation vom Ersten Konsul in dessen erstem Amtsjahr? Eine Dehnung der Welthorizonte, antwortet Hölderlin. Die Zertrümmerung überlieferter Verhältnisse, urteilt Einar Schleef, WIE MAN EIN GLÜCKSSCHWEIN ZERSCHLÄGT UND DESSEN INHALT UNTER BRÜDERN VERTEILT. Was erwarteten die Schwestern, Cousinen und die Geliebten der Stürmer und Dränger vom Korsen? Hätte der italienische Feldzug geführt werden können von einer Jeanne d’Arc?
FILM (4 Min.) – Wie spielen Sie Napoleon (Hannelore Hoger):
Napoleons Wappentier
Der junge Bonaparte, der später die Biene zu seiner kaiserlichen Insignie wählte (er hatte das Symbol während des ägyptischen Feldzuges aus pharaonischen Vorlagen für sich ausgewählt), ließ sich von einem britischen Biologen die Gewohnheiten und die Staatswesen dieser Insekten erläutern.
– Bilden sie Gesellschaften, Staaten, Nationen?
– Sie sind Fabriken.
– Die Honig produzieren oder Kühlung im Sommer und mittlere Wärme im Winter?
Bereits der Konsul Bonaparte neigte dazu, wie später als Kaiser, seine Gäste durch eigenes Wissen zu überraschen. Die Zeit hierfür ging ihm jeweils verloren, da er nichts Neues erfuhr. Andererseits beschleunigte ein solcher »Anstoß« die Anstrengungen des Gastes. So lag in dieser »Technik« Bonapartes auch ein Vorteil. Der Brite antwortete:
– Sie produzieren eine Königin. Die Königin regiert den Nachwuchs.
Eine dicke, fette Königin, rief Bonaparte aus. So, als besäßen wir Engländer, fuhr der Brite fort, eine sechs Meter hohe Gestalt, die wir König nennen und die täglich Tausende von Soldaten oder Händlern hervorbringt. Das nenne ich eine Fabrik, bestätigte der Konsul.
– Wodurch entsteht eine solche Riesengestalt, eine einsame Rasse, von der alle anderen abhängen?
– Durch eine besondere Ernährung der auserwählten Larve, die später Königin wird.
– Nicht durch den Stammbaum?
– Ich glaube nicht.
– Die Arbeiterinnen, der gesamte Bienenstamm zahlt durch seine Mühen in diese Fabrikationen des Nachwuchses und der Glückseligkeit ein?
– Das ist das Besondere am Bienenstaat, an der Bienenfabrik.
– Ja, ein besonderes Gemeinwesen.
Bonaparte neigte in jenen Jahren zu der überzogenen Auffassung, daß ein Regent, gleichgültig, was seine Abkunft voraussage, die Zuwendung der Regierten so an sich binden könne, daß eine Riesengestalt entstehe, die Ruhm, Erweiterung des Reiches, Glanz und »Glück« fabrikmäßig, d. h. willentlich, herzustellen vermöge. Das war eine Chance, Gott zu entthronen. Es war dem nur behaupteten Charisma der Könige überlegen.
Wann aber war der Moment, in welchem die Potenz Tausender von Patrioten in den Leib Napoleons einging? Ihn zur ÜBERDURCHSCHNITTLICHKEIT wachsen ließ, zur Bienenkönigin? Das wagte der Konsul den gelehrten Gast nicht zu fragen. Er wollte nicht hören, daß solche Eigenschaften von Menschen »ererbt« sein könnten. So kritisch war er, daß er nicht glaubte, auf Grund seines Familienerbes zur Bienenkönigin zu werden.
FILM (8 Min.) – Johannes Willms über Napoleons letzte Schlacht:
FILM (24 Min.) – Der Chefkoch von Waterloo (Peter Berling):
»Hast Du Glück, so kennst Du keine Väter«
Von Bonapartes Vater spricht kaum jemand. Er starb früh an Krebs. Napoleon nennt sich »Sohn des Glücks«. Sein Vater hatte kein Glück.
Seine Mutter Letizia ist allgegenwärtig. Sie hat ihn um 15 Jahre überlebt. Ihr Schatten begleitet ihn, als er zum »Adlerflug« ansetzt. Das Bild, wie er, ungebrochen, auf seinem weißen Pferd nach seiner Niederlage aus Leipzig davonreitet, der Mitleidlose, erinnert Heiner Müller in seinem »Nachruf auf Napoleon« an eine älter gewordene Matrone, verheiratet, wie Müller sagt, mit Mr. Glück, der auf und davon ging.
FILM (2 Min.) – Korsika, Mon Coeur (Helge Schneider):
Blüchers Schwangerschaft
Androgyne Struktur
Wem gehören die Gefühle? Sind sie in den Grenzen des ICH oder des SELBST zu fassen? Sind sie in die Abschnitte des Geschlechtslebens gepfercht, männlich, weiblich? Der Philosoph Montaigne sagt, Gefühle könnten keine Berge versetzen. Sie können jedoch die körperliche Grenze zwischen männlich und weiblich oft mühelos überschreiten, ja ihre Geschlechtszugehörigkeit ist wie die von Engeln ungeklärt.
Der Kommandeur der preußischen Armeen, die gegen Napoleon kämpften, den Rhein überschritten und Paris besetzten, Leberecht von Blücher, wird von seinen Kritikern als »hochherzig« oder »großzügig« bezeichnet. Damit ist gemeint, daß er Willenskräfte zahlreicher ihm anvertrauter Kämpfer in sich vereinigte, mit großer WILLENSBALLUNG hantierte (»wie mit einem Finger stieß er auf Paris vor«). Nach der Katastrophe Preußens in der Herbstschlacht von Jena und Auerstedt hatte Leberecht von Blücher einen Teil der preußischen Reiterei davongeführt; ein Tapferster der Tapfersten, hatte er erst in aussichtsloser Umzingelung kapituliert.
Später führte er die preußischen Armeen gegen das Schlachtengenie Napoleon. Man nannte Blücher den »Marschall Vorwärts«. Ein solches Gefäß des Patriotismus, d. h. einer unter zahllosen Männern und Frauen verbreiteten Bereitschaft, lieber den Tod zu riskieren, als das Vaterland in Knechtung zu wissen, ist ein Menschenwesen, das weitverstreute Impulse anderer Menschen in sein Herz aufnimmt und in Befehle verwandelt. Ein solcher Mann, sagt der Biograph Blüchers, besteht aus vielen Großmüttern, Tanten, Geschwistern, ja aus dem Durchfluß der Generationen. Nur äußerlich ist Blücher in eine Uniform, eine Person gezwängt und mit Geschlechtsmerkmalen behängt. Es ist nicht abwegig, schreibt dieser Biograph, den preußischen Befehlshaber als androgyn zu bezeichnen.
Die Rückkehr des Korsen nach Frankreich hatte den preußischen Oberbefehlshaber erschreckt. Er führte die preußische Armee in Richtung Belgien. Nördlich von Fleurus stieß er auf Napoleons zusammengeraffte Armee (die Aufeinandertreffen der Armeen sind durch das Wegenetz seit 1789 vorherbestimmt und schematisch). Die Franzosen zerschmettern zwei der preußischen Korps. Marschall Blücher selbst lag verwundet unter dem Leib seines mächtigen Pferdes. Ein Adjutant bewachte ihn. Die Nacht brach herein. Der geschlagene Feldherr wurde spät gefunden, es wurde ihm Branntwein eingeflößt. Sein zerschmettertes Bein wurde unter dem Pferdeleib hervorgezogen. Auf einem Leiterwagen wurde der Ohnmächtige nach Wavre transportiert, wohin sich die preußischen Truppen auf zwei Straßen zurückzogen. Beim Erwachen war Blücher »wie von Sinnen«.
Der Feldherr Blücher reiste nach Abschluß dieses Feldzugs nach London, wo die Alliierten den zweiten Sieg über Napoleon in einer Kette rauschender Feste feierten. »Blüchers Gesundheitszustand blieb während des Sommers 1815 prekär. Seine Augen entzündeten sich. Wieder litt er unter Halluzinationen, obwohl er sie diesmal besser zu beherrschen schien. >Je sens une éléphant la< (ich fühle da einen Elefanten), vertraute er Wellington an und strich sich über den Leib. In dieser letzten Phantom-Schwangerschaft lag eine besondere Ironie, er glaubte, der Elefant sei ihm von einem französischen Soldaten gezeugt worden.« (Philip Henry Stanhope, Notes of Conversations with the Duke of Wellington – 1831 bis 1851, London 1888, S. 119)
Im Interesse des preußischen Staates, sagte v. Schön, der Gesandte Preußens am Hof von St. James, muß diese Sache ein Geheimnis bleiben. Es ist aber keine SACHE, erwiderte v. Arnim, der Sekretär. Es muß geheim bleiben, beharrte v. Schön, er war der Bruder des Oberpräsidenten. Wenn aber der Feldmarschall nicht schweigt, sondern es jedermann ins Ohr flüstert? Um so inniger muß es als militärisches Geheimnis gehütet werden, erwiderte der preußische Staatsmann, der als Außerordentlicher Gesandter die Delegation in London führte. Der Fehler, erwiderte v. Arnim, liegt aber nicht bei uns, sondern in den Vorurteilen der Briten. Sie haben eine falsche Vorstellung von Männern, Kavallerie-Offizieren und Feldherrn. Wieso soll denn, wenn es zu seiner Person gehört, der Marschall nicht schwanger sein? Es hat ihn ja nicht behindert während der Schlachten. Na, na, antwortete der Gesandte, wir wollen nicht hoffen, daß Blücher wirklich schwanger ist.
Schön, der Gesandte, war verzweifelt. In der Entfernung, hinter den Tanzenden, war der Feldmarschall zu erblicken, der dem britischen Oberbefehlshaber, Lord Wellington, am Ohr saß und ihm erklärte: er fürchte für sein Becken; vielleicht sei der Balg zu groß für sein Becken. Es konnte das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit Preußens steigern, wenn die Diplomaten dieser Monarchie sich dazu bekannten, ihren Feldherrn so zu nehmen, wie er war. Nur dann gab es die preußischen Siege von 1807 bis 1815 wirklich. Dachten sie dagegen an die Wehrhaftigkeit, kam alles darauf an, einen Mantel der Geheimhaltung zu weben, unter dem die Flüsterkampagne des schwangeren Marschalls erstickte. v. Schön war ganz warm ums Herz, als er daran dachte, daß man es einfach bei der Wahrheit belassen könnte. Aber was war an dem Zustand des Marschalls wahr? Die Vergewaltigung? Oder die dunklen Gedanken der Zeugen?
FILM (7 Min.) – Ich war ein treuer Husar (Helge Schneider):
Ein Mensch, aus Trümmern gegossen
Er kam von der Peripherie Europas. Ajaccio auf Korsika ist »extended Genua«, von dieser Seestadt aus gesehen, Provinz. Von Paris aus betrachtet, ist Korsika ein Fremdland.
Auf den arbeitsuchenden Immigranten Bonaparte konnten sich die Bürgerkriegsparteien Frankreichs einigen, auf einen der Ihren, aus dem Zentrum des Landes, aus der Gemengelage von Ancien régime und Revolution, gewiß nicht. Der junge Offizier war von bestrickender Intelligenz. Hübsch anzusehen in seiner kleinwüchsigen Gestalt, in der Uniform, welche die Glieder zusammenhält. So beschreibt ihn sein Biograph Friedrich Sieburg, der in den Heroen verliebt war wie in keinen Mann seiner realen Umgebung. Das Gesicht wie das eines Kindes. Ein olivfarben-blasses Antlitz, ein Kontrast zu den Gesichtern der Kriegsgurgeln, die er kommandierte. Eine Physiognomie der Jugendlichkeit um 1800.
Der Rest sind Glücksfälle. Er war stets am rechten Ort und besaß für seine Karriere die notwendige Unterstützung Dritter. Das Unwahrscheinliche seines Aufstiegs gehört zu der Erzählung, die ihn bedeutend machte. Bald konnte man in dem Ausländergesicht einen Römer erblicken.
Diese lebendige Erinnerungssäule, sein öffentliches Bild, hätte im Falle seines Glücks, falls er seine Siege überlebt hätte und ein Friedensfürst, DER ERSTE MANN EUROPAS, geworden wäre, die Trajanssäule überstrahlt. Er wäre Idol der bürgerlichen und der bäuerlichen Gesellschaft (Vernichter der alten Welt und zugleich des nackten Geldes) gewesen. EIN MODELLMENSCH IN DER KLEIDUNG EINES KORPORALS. Oft trat er in anderen einfachen Kleidern auf, in Zivil, auch im Kittel eines Landwirts oder Gärtners. Wenn er so eingekleidet einherging, blieb die Uniform stets gegenwärtig. Also ein KALEIDOSKOP-MENSCH, der in einer Arbeitsstunde stets mehreres zugleich vollführte (diktieren, lesen, Anweisungen geben, jemandem zunicken).Wenn er zu Fuß oder zu Pferde auftrat, begleiteten ihn eine Gruppe aufgeputzter Helfer und die Echos früherer Taten. Ein Mann, in dessen Brust sich Massen von Menschen tummelten; solange sie dort waren, vertrugen diese Gegensätzlichen sich untereinander. Ein BÜRGERLICHER SOUVERÄN. Berührend, daß er Mensch und Bürgergott in einem war. Keiner wie Du und Ich. Kein steinernes Denkmal, ein Rätsel. Schade, daß die Sphinx zerfiel.