Geburtstagsgruß!
Am Sonntag, dem 31. Mai 2015, siebzig Jahre nach dem Kriegsende von 1945, wäre Rainer Werner Fassbinder siebzig Jahre alt geworden. Er ist kein Typ für diese Altersklasse. Hätte er sein Krisenjahr 1982 (und die sicherlich noch folgenden) überlebt und würde jetzt mit uns feiern, hätte er, vermute ich, soeben seinen 182. Film fertiggestellt. Diese Filme fehlen. Vor allem fehlt mir der Gefährte. Eines steht für mich fest: Sein Sarg war leer.
Neun Geschichten für Rainer Werner Fassbinder
Chance für Unwahrscheinliches, wo sich GROSSE KAUSALITÄT und KLEINE KAUSALITÄT kreuzen
In den ersten Oktobertagen des Jahres 1944 wurde auf einem der Notbetten eines der Zimmer im Kurgebäude von Bad Wörishofen, die den Ärzten des Kriegslazaretts als Übernachtungsmöglichkeit zugewiesen waren, Rainer Werner Fassbinder gezeugt. Von zwei literaturbegeisterten Elternteilen. Der Vater hatte seine Frau zu dieser Schwangerschaft überredet. Er wollte Vorsorge treffen, daß er nicht in der letzten Phase des Krieges noch an die Front versetzt würde. In der Richtlinie der Heeresverwaltung war bis dahin eine frische Vaterschaft als einer der Gründe für die Nichtversetzung eines Militärarztes vom Garnisonsstandort aufgeführt (ein höchst sekundärer unter 26 möglichen Gründen). Zu diesem Zeitpunkt war diese Richtlinie bereits geändert, so daß eine Ursache für die Zeugung bereits entfallen war, während die konspirativen Eheleute noch glaubten, daß sie bestünde. Es war somit ein enges Nadelöhr an Kausalität, welches das spätere Filmgenie in die Welt brachte, ein Fangnetz des Zufalls. In dieses, bei erdgeschichtlicher Betrachtung winzige, Netz, strömten (um die Haverkamp-Blumenbergsche Metapher näher auszuführen) die Zufallsmassen von Äonen, die Gewalt von 4,56 Millionen Jahren seit Beginn des Präkambriums ein. Das sind Sammelbecken riesiger Zahlen, Konzentrate von Unwahrscheinlichkeiten, die sich nur von der Geduld der Natur aufhäufen lassen. Riesenzahlen, dividiert durch exzessiv kleine, bewirken die Wunder.
Man kann sagen, um bei der Metapher zu bleiben, daß Wiedergeburten stattfinden, so wie Steine, spielerisch geworfen, über eine Wasserfläche springen. Es ist aber kein Werfer da, der solche Würfel wirft. So wird im Oktober 1944 ein Kind gezeugt und am 31. März 1945 geboren. Auf das beiderseitige oder einseitige Entzücken oder auf die Gleichgültigkeit eines der Beteiligten kommt es nicht an. Der Zufall in kleiner Zahl und auf seinem Rücken der Zufall der großen Zahlen gebiert das Ungeheuer.
Die Bielefelder Astrologin Elfriede Schückler liest aus dem Geburtshoroskop R. W. Fassbinders, daß es mit dem des knabenliebenden oströmischen Kaisers Julian Apostata nicht bloß ähnlich, sondern identisch ist. Und es ist bekannt, daß Johannes Kepler aufgrund derselben unverwechselbaren Sternenkonstellation sich seinerzeit als Wiedergeburt dieses Kaisers erkannte. Indessen blieb er heterosexuell. Mit der Macht seiner Geburt, dem Sternenglück, gelang es ihm, seine Mutter vor den Häschern zu retten, die sie anklagten, eine Hexe zu sein. Das konnte im abergläubischen Leonberg zu Anfang des 17. Jahrhunderts als Wunder gelten.
Von dem Weißstiftzeichen konnte er nichts wissen
Rainer Werner Fassbinders Beitrag zu Deutschland im Herbst, die zweite Episode des Films, hatte Überlänge. Beate Mainka-Jellinghaus markierte in der Arbeitskopie mit Weißstift die Stellen, an denen die Schnitte liegen sollten. Fassbinder erschien. Neben dem Schneidetisch bereitete er sich einige Linien von Schnee. So eingestimmt, widmete er sich der Arbeitskopie. Und zwar zerriß er immer dort, wo er eine Kürzung akzeptierte, den Film. Die Kürzungen lagen exakt dort, wo sie von Beate Mainka-Jellinghaus eingezeichnet worden waren. Von den Weißstiftzeichen konnte er nichts wissen.
Endkorrekturen für Deutschland im Herbst (2 Min.)
Sie haben unsere Freunde umgebracht (3 Min.)
Filmszene aus der Arbeitswelt
In der Zeit, in welcher R. W. Fassbinder und sein Produktionsteam (das damals Theater im Volksbildungsheim spielte und Filme machte) in der Kaiserstraße in Frankfurt residierten, hatte einer seiner Favoriten irrtümlich eine Drehgenehmigung in einer stillgelegten Fabrik des Rhein-Main-Gebietes besorgt, in der früher Schreibmaschinen und auch Werkzeugmaschinen hergestellt worden waren. Jetzt aber war das Unternehmen in Insolvenz geraten, und der Abriß stand bevor.
Nachdem die Drehgenehmigung schon einmal da war, entschloß sich R. W. Fassbinder, sie auch zu nutzen. Es war dies der seltene Fall, daß er in der Arbeitswelt filmte. Er ließ vor Ort Schienen für die Kamera legen. Die Kamera sollte den Darstellern, die er eine weite Strecke über das Gelände laufen ließ, in stabiler Fahrt folgen: eine technisch perfekte Fahraufnahme stand sozusagen im Gegensatz zu der technisch ramponierten, zum Teil schon zerstörten Fabrik. In der Filmaufnahme selbst war Fassbinders Idee nicht zu erkennen, da man auf unbestimmtem Hintergrund immer nur die Köpfe der Darsteller in Großaufnahme sah. Dagegen besaßen die Fotos, welche die Dreharbeiten festhielten, einen hohen ästhetischen Wert. Man sah die Pflasterstraße und die in die Pflasterung eingelassenen Schienen für die Loren (oder eine werkseigene Schmalspurbahn), die noch dem 19. Jahrhundert entstammten, und darüber waren die technisch modernen Schienen für die Kamera aus dem Bestand der Firma Arnold und Richter gelegt; große Scheinwerfer vergossen ihr Licht – dies alles deutlich eine Welt des 20. Jahrhunderts.
Wegen der Krise, die in jenen Tagen in der Öffentlichkeit um das Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod und der darin enthaltenen Rolle des »Juden von Frankfurt« ausbrach, und auch wegen des Drucks, der von einem Anschlußprojekt für den WDR ausging, blieb es bei diesem einmaligen Dreh, aus dem die beschriebene lange Fahrtszene hervorging. Fassbinder versah die etwa siebenminütige Sequenz später mit einem von einem seiner Schauspieler gesprochenen Text. Es handelte sich um Worte, die nicht unter den Begriff ARBEIT fielen: SPIELEN, GÄHNEN, BETEN, SCHLAFEN, GRÜBELN, HASSEN, WÜRGEN, RAUBEN, SICH STRECKEN, SPRINGEN, SICH ZUM STERBEN LEGEN, AUFWACHEN, RAUCHEN, SICH ANKLEIDEN, JEMANDEN AUSKLEIDEN, WEINEN, JAGEN, SAMMELN, SPÄHEN, TÜRMEN, KLEBEN (ZUM BEISPIEL TÜTEN), HORCHEN, ESSEN, TRINKEN, STECHEN, MURREN, SUCHEN, FINDEN, FRIEREN, TROCKNEN, WITZE ERZÄHLEN.
Bei der Filmmischung (hier werden in einem Studio das geschnittene Filmpositiv und die entsprechend dem Negativ perforierten Tonbänder synchronisiert) fragte der Toningenieur Fassbinder, ob in den von diesen Worten wiedergegebenen Tätigkeiten nicht immer noch Arbeit versteckt sei. Fassbinder neigte nicht zu philosophischen Erörterungen, war ungeduldig.
– Irgendwie kann man immer sagen, daß »etwas arbeitet«.
– Ein Stein, der am Wegesrand liegt, arbeitet aber nicht.
– An ihm arbeitet das Wetter.
– Das wäre keine Arbeit im menschlichen Sinn.
– Beim Schlafen arbeiten die Zellen und die Verdauung.
Fassbinder hatte mit seinem letzten Satz eingelenkt, um das Gespräch abzukürzen. Und was wollen Sie mit dem Filmstück später anfangen, das wir hier mischen? Es ist sieben Minuten lang. Es gibt kein Programm im Kino oder im Fernsehen von dieser Länge, sagte der Toningenieur. Das Stück ist für die Ewigkeit gemacht, antwortete Fassbinder, der nervös war.
Die Rolle von Fassbinders Mutter (2 Min.)
Liebe ist kälter als der Tod (2 Min.)
Die Sonntagsmörder (5 Min.)
Engführung des Lebens
Das Leben Rainer Werner Fassbinders befand sich von März bis Juni 1982 in einer Engführung. In der Oper nennt man Engführung eine Stretta. Sie beendet Akte und bildet oft das Finale.
Die Annäherung zwischen Rainer Werner Fassbinder und Andy Warhol in New York war von gegenseitigem Vorteil. Deshalb war Warhol auch bereit, das Plakat zu Fassbinders Film Querelle zu entwerfen. Ein solches Plakat war einerseits autonomes Kunstwerk und kunstmarktfähig und zugleich ein passendes Werbemittel. Die Begegnung mit dem als »wild« geltenden Fassbinder war für den älteren und ruhiger gewordenen Warhol, der keine Drogen mehr nahm, keinen Alkohol trank, in seinen Intimbeziehungen vorsichtig geworden war, ein wertvolles öffentliches Gut. Beide Matadoren waren auf solche Vorteile an sich nicht angewiesen. Es waren die Gehilfen und Fassbinders Produzent, welche die beiden kuppelten. Heute sehen wir diese Tage Fassbinders als die Endzeit in seinem Leben und zählen sie von seinem Tode am 10. Juni 1982 an rückwärts. Bei dieser Betrachtung erscheint die Zeit hektisch. Dabei waren die Tage tatsächlich voller Trash, Bummelei, Warten. Der Produzent, der Fassbinder nach New York begleitet hatte, brauchte viel Aufwand, um die Stimmung seines Mozarts (wenn man alle Künstler, die mit 35, 36 oder 37 Jahren sterben, unter diesem Namen zusammenfassen will) in der Morgenstunde an die Tagesrealität zu gewöhnen. Er war kein Schikaneder. Er engagierte Statisten vor Ort, die am Hoteleingang den Regisseur »spontan« begrüßen sollten. »Sind Sie nicht der berühmte Regisseur Fassbinder? Ich bitte Sie um ein Autogramm.« Geringe Ausbeute. Man hätte schon andere Einfälle haben müssen, um Fassbinders Stimmung aufzuhellen. Schon früh im Schatten der Droge.
Den zivilistischen Warhol irritierten die Leinen-Breeches mit militärischem Leopardenmuster, in denen Fassbinder ihn besuchte. Es war das Kostüm aus einem Film, in dem er eine Nebenrolle übernommen hatte, eine Zufallskleidung. Warhol bezog die Verkleidung auf sich selbst. Er sah eine große Verallgemeinerung darin, ein Vorurteil, eine Anspielung darauf, daß homoerotische Menschen sich auf gewisse Kampfkleidung oder Accessoires festlegen ließen, während doch ihr Unterscheidungsvermögen, die Nuancierungen, eher stärker ausgebildet waren als bei Heterosexuellen. So empfand er die Übertreibung der Oberschenkelmuskulatur (Reiterbeine) bei Breeches generell als unhöflich.
Fassbinder, noch schläfrig, sagte nichts. Rasch verabschiedeten sie sich voneinander, ehe sie sich überhaupt begrüßten. Fassbinder saß dann für Stunden in einem Café und untersuchte die Strichjungen-Annoncen in einigen Fachblättern.
Am Ende eines Aktes, bei der Stretta, werden die Stimmen schneller. Es wurden aber für Fassbinder nicht bloß die Projekte, die Termine, die Einfälle, die ihm abgefordert wurden, rascher. Er selbst war langsamer geworden, und so wurden die Anforderungen an seine Einfälle penetranter. Seine Körpersäfte hetzten den Stundenplänen hinterher, die seine Berater und Organisatoren ihm vorhielten. Er mußte, in sein New Yorker Hotel zurückgekehrt, eine lange Linie in seine Nase ziehen, um überhaupt in so etwas wie einen TAGESLAUF hineinzukommen. Die Nase blutete.
Von New York zu den hysterisch aufgeladenen Filmfestspiele von Cannes. Wenn ein großer Regisseur dort keinen Film zeigt, funktioniert die Abwehrschranke durch Assistenten und Organisatoren nicht gegen die zweitklassigen Presseleute, die den Prominenten sehen und eine Äußerung oder ein Bild aus ihm herausquetschen wollen. Fassbinder, mit Übergewicht, müde, ein dicker Mann, wie mit einer Fliegenklatsche gejagt. Ich hatte vor Jahresfrist mit ihm verabredet, daß er zwei Momentaufnahmen aus dem Leben Napoleons für mich spielen sollte. Der Kaiser bei der Ausfahrt aus dem Hafen von Elba: Eben noch an Land, hat er jetzt das Schiff bestiegen, das ihn in vier Tagen zur Südküste Frankreichs bringen wird. Die zweite Szene betraf den Aufenthalt in einer Wirtschaft in den französischen Alpen. Der Kaiser schämt sich. Er will in Paris nicht als fettleibiger alter Mann gelten. Er läßt sich frisieren, schminken. Er setzt sich in einen Badezuber mit heißem Wasser. Anfang einer Abmagerungskur. Einwohner des Ortes um ihn herum. Sie sehen den ersten Mann Frankreichs zum ersten Mal. Indem sie ihn feiern, feiern sie sich selbst. Nie kam ein Mann, dem soviel Hörensagen vorausging, in ihren einsamen Ort.
Nachträglich haben viele die Engführung der Tage in New York, in Cannes und dann, am 31. Mai 1982, die triste Geburtstagszeremonie in der Deutschen Eiche mit Einzelheiten gedeutet. In einem Stummfilm der zwanziger Jahre sieht man Wände, welche die Szene sukzessiv einengen. Zuletzt ist für den Menschen in diesem Raum kein Platz mehr. Die Wände pressen auf ihn ein. Die generöse sexuelle Praxis, auf die Fassbinder in den zehn Vorjahren angewiesen war, um sich auszuhalten, geriet mit dem Einbruch von HIV an ein Ende. Im Mai 1982 war es noch Hörensagen, ein Jahr später wäre Fassbinder Opfer der Ansteckungswelle gewesen. Der junge deutsche Film dadurch in Engführung, daß die Programmkinos im Zentrum der Großstädte in Folge der Mietpreisentwicklung liquidierten. Stärker noch in die Enge führend die Insolvenz seines Körpers. Valium, Vesparax, Captagon, die Droge, Whiskey, Wein, Bier – Bürgerkrieg in den Nerven. Fassbinder starb, ehe ihm die Stretta sein Ende setzte.
Der letzte Abend des R.W. Fassbinder (5 Min.)
Fassbinder lebt weiter (2 Min.)
Sein Sarg war leer (45 Min.)
Eine letzte Frontfahrt
»Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität,
ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten.«
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik
Der Minister für Rüstung und Bewaffnung des Reiches verschwieg später manches, was er tatsächlich gewußt hatte, und er wandte bereits vorher seine wache Wahrnehmung vom Elend der Zwangsarbeiter in den Betrieben ab, die ihm unterstanden. Bis zu den Hüften, schreibt seine Biographin Gitta Sereny, sehe ich ihn eingetaucht in den »Kältestrom seiner Zeit«.
In den letzten Tagen des Kriegs, in denen jeder sah, daß er nicht mehr lange dauern konnte, keiner aber wußte, wie man ihn rasch beendet, ließ sich der Minister auf Straßen nordwestlich der Reichshauptstadt nochmals in den Kessel fahren. Bekannt ist, daß er den Gefährten Hitler (den er einige Wochen zuvor noch durch Giftgas hatte töten wollen) vor dessen Tode besuchte. Der wahre und weniger bekannte Grund für diesen Berlin-Besuch bestand aber darin, daß er seinen Freund Dr. med. Karl Brandt, den zu diesem Zeitpunkt durch ein Standgericht zum Tode verurteilten Reichsärzteführer, retten wollte. Er glaubte, der Freund befinde sich noch in der Gestapohaft in Berlin. Wie ein Schutzgeist begleitete der Minister den Weg dieses Kameraden mit Telefonaten bei allen zuständigen Behörden. Es gelang Albert Speer, den Todgeweihten später in Mürwik, wo die Reichsregierung residierte, in die Restzivilisation zurückzuführen. Dem Freunde gegenüber blieb der Minister nicht kalt.
Theodor W. Adorno bezeichnet Kälte als das Grundprinzip der bürgerlichen Subjektivität, als die Voraussetzung, ohne die Auschwitz nicht möglich gewesen wäre. Diese Identität ist aber in keiner bürgerlichen Gesellschaft prinzipiell, also rein herstellbar. Ein bürgerlicher Mensch wie Albert Speer lebt nicht längere Zeit auf der Höhe eines Prinzips; vielmehr bewegt er sich an einzelnen Tagen so, wie die Bürgerin Leonore ihren Mann Florestan rettet oder wie der Freund dem Tyrannen Dionys den Bürgen entreißt, den er ihm überlassen hat.
In einer Diskussion im Frankfurter Volksbildungsheim, an der Rainer W. Fassbinder sich beteiligte, der mit seiner Meinung auf vehementen Widerspruch stieß, ging es um den ungleichmäßigen Charakter »des Kriegsverbrechers Albert Speer«; phasenweise verhielt der sich gleichgültig, phasenweise agierte er emotional. Dieser Charaktertyp, so Fassbinder, sei für Auschwitz weniger ausschlaggebend gewesen als die Gemütslage, die sich im staatlich gesteuerten Unterhaltungsprogramm geäußert habe und die noch im April 1945 völlig intakt war.
Ein Befehlshaber der Totenkopfverbände habe auf der Eisenbahnfahrt in Richtung Osten, so Fassbinder (der entweder über einen Zusammenhang oder eine Szene in einem von ihm geplanten Stück sprach), den Schlager »Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht …« auf der Zunge gespürt. Tatsächlich sei er aber nicht auf dem Wege zu einem Abschied, sondern zu einer Ankunft gewesen, nach welcher er Befehle gegeben habe mit Schadensfolge für Dritte.
Reise zu den Sternen
In New York hat ein Grieche einen Jahrhundert-Fonds errichtet und bereits drei Millionen Dollar auf den Konten des Projekts versammelt. Im Verlauf von 100 Jahren soll mit dem bis dahin aufgebrachten Gegenwert von 100 Milliarden Dollar (in einer inflationsgesicherten Währung) eine Expedition zur nahen Sonne Gliese II, einem rötlichen, schwach leuchtenden Stern, den ein Planet umrundet, ausgerüstet werden.1 Der Grieche, ehemals Reeder, jetzt Fondsgründer, hat das Vermögen bereits beliehen. Drei Generationen werden nach der bisherigen Planung in der Raumschiffflotte leben und sterben. Keiner der Auswanderer wird die Erde wiedersehen.
Es wird nicht erwartet, daß die Nachkommen dieser Menschen, die sich aufgrund dieses Projektes verabschieden, auf dem bereits identifizierten Planeten jener Sonne niederlassen, sondern daß dies vermutlich auf einem der kleineren und entfernteren Planeten oder auf einem der Monde in jener Parallelwelt geschehen wird.
Der Ansatz entspricht einer Filmphantasie, der Rainer Werner Fassbinder eine Woche lang in seinem Quartier in der Frankfurter Kaiserstraße nachging. Die Handlung des Filmprojekts spielt im Zweiten Weltkrieg. Es werden Männer und Frauen ausgewählt und »unabkömmlich« gestellt, also aus der Front und der Rüstungsproduktion herausgenommen und in einem Quartier bei Sonthofen einer strapaziösen Ausbildung unterzogen. Sie sollen die Raumschiffflotte, bestehend aus 52 Raketen des Typs A12, besetzen (zehn Generationen nach der V2). Die Ankunft auf dem Nachbarplaneten Mars ist für das Frühjahr 1952 vorgesehen.2 Schon vor der Premiere des Stücks Der Müll, die Stadt und der Tod wurde das Filmvorhaben nicht weiterverfolgt. In der intimen Hofgesellschaft, welche das Produktionsquartier in der Kaiserstraße bildete, waren die Rollen teilweise bereits besetzt, zum Teil noch umkämpft.
1Der Investor erhält außer einem Anteilszertifikat am Fonds, der im außerbörslichen Freihandel verkäuflich ist oder an den Wertsteigerungen teilnimmt, das Recht auf einen in Quadratzentimetern ausgedrückten Platz in einem der Container, welche auf der Expedition mitgeführt werden (Nutzung unwahrscheinlich). Rechteeinräumung gilt für ihn, seine Erben oder für Dritte, denen er dieses Recht überträgt.
2Die erschütterndste Szene im Drehbuch: Wenn die Maschinen mit Hilfe ihrer Automatik an den Marsmond Phobos andocken. Zeitsprung: Im Jahre 2042 werden die Container geöffnet von Pionieren, die inzwischen wirklich in die Marsumlaufbahn gelangt sind. In den A12-Röhren liegen wohlgeordnet die Skelette.
Ein Dschingis-Khan des deutschen Films (45 Min.)
Die Geschichte vom rachelüsternen Medizinmann
Es ist bekannt, daß R. W. Fassbinder einen Geliebten, der in einem seiner Filme eine Rolle übernommen und ihn dann verlassen hatte, dadurch strafte, daß er die im Kopierwerk eingelagerten Negative der betreffenden zwei Produktionswochen vernichten ließ.
Wie aber im Märchen der Jäger, der das Königskind umbringen soll, es statt dessen lediglich aussetzt, d. h. einer Hindin anvertraut, weil er es nicht über sich bringt, das schöne Lebewesen zu töten (und er bringt zum Beweis des erfolgten Mordes das Herz eines Tieres nach Hause), vernichtete der Kopierwerksmitarbeiter, der mit dem Zerstörungswerk beauftragt war, das Material nicht wirklich, sondern lagerte es um in ein Kellergewölbe, das nach seiner Überzeugung trocken genug war, um als Lagerraum für Negativbüchsen zu taugen. Die Büchsen beschriftete er mit einer phantasievollen Bezeichnung. Später wechselte er Beruf und Adresse und ist heute unerreichbar.
– Tat er das, weil es so schwer ist, 35-mm-Filmmaterial zu vernichten? Es ist schwer brennbar. Man kann es auch nicht leicht häckseln oder zerschneiden. War es Trägheit, die das Material rettete?
– Es ist sehr schwer, solches Filmmaterial zu vernichten. Die Zeit vernichtet es. Falsche Lagerung ebenfalls. Aber es ist eigentlich nicht zu Vernichtungszwecken da.
– Oder achtete der Kopierwerksmitarbeiter den Wert? Zwei Wochen Fassbinder-Produktion! Das ist ein Element der Filmgeschichte! Vielleicht, etwa wenn Fassbinder später bereut, sich mit seinem Geliebten wieder versöhnt und das Material sucht, erhält der Mitarbeiter einen Finderlohn?
– Es besitzt ja Wert. Es hätte heute als Fragment eines Fassbinder-Werks unermeßlichen Marktwert. Damals vielleicht noch nicht.
– Und wie wurde das Material gefunden?
– Bei Räumung des Verstecks.
– Woher weiß man, daß es Fassbinder-Material ist?
– Auf dem Negativ ist das Datum der Einlieferung vermerkt. In den Mustern ist Fassbinder einen Moment lang zu sehen, während er inszeniert. Der Kameramann hatte die Kamera versehentlich eingeschaltet.
– Was wußte man von dem Konflikt mit dem Darsteller, um dessentwillen das Material vernichtet werden sollte?
– Das ist nicht erforscht.
– Was war auf dem Material zu sehen?
– Es handelte sich um einen eigenständigen Film im Film, gediehen bis zu einer Länge von 25 Minuten. Fassbinder drehte während des Drehs von Filmen auch neue Filme, wenn es ihm einfiel.
– Aus Gründen der Kalkulation?
– Genau deswegen. Der zweite Film wurde aus der Kalkulation des ersten bezahlt.
In diesem Streifen ging es um folgendes: Einem indianischen Medizinmann wurde der Kopf eines Weißen aufgesetzt, der 1944 umgebracht worden war. Dieser Medizinmann rächt sich an einer der britischen Familien, deren Vorfahren einst seinen Indianerstamm vernichteten. Der Ausgang der Handlung und die dramaturgische Verknüpfung waren aus dem Fragment nicht zu ermitteln.
– Hätte Fassbinder die Teile durch Kommentar verknüpft?
– Das weiß man nicht. Jedenfalls war das Material nicht so angelegt, daß alles bebildert werden sollte. So sieht man z. B. nicht, wie dem Medizinmann chirurgisch der Kopf des Weißen aufgesetzt wird. Von diesem Vorgang sieht man lediglich ein Foto in der Hand des Hauptdarstellers.
– Der Hauptdarsteller ist der Medizinmann?
– Nein, ein Mitglied der Familie, an dem sich der Medizinmann rächt.
– Was geschieht mit dem Material?
– Es gehört dem Finder. Der hat bislang nicht darüber verfügt.
– Und wer war der Finder?
– Ein Bauunternehmer, der mit der Räumung der Lagerräume beauftragt war.
– Warum entschied er bislang nicht über seinen Fund?
– Es ist nicht klar, ob er oder der studentische Helfer als der Finder gilt.
– Gibt es Streit?
– Nein. Aber der Unternehmer und die studentische Hilfskraft waren offenbar miteinander liiert. Jetzt soll die Affäre nicht herauskommen, und das blockiert die Lösung der Frage, wer denn nun der Finder ist und wer über das Material verfügen darf.
– Ähnlich wie schon vorher bei Fassbinder. Es scheint ein Fluch auf dieser Geschichte zu liegen.
– Sie hat ja auch eine merkwürdige Handlung.
Ein Versprechen
Wir lagen im Garten eines der Hotels am Lido in der Nachmittagssonne. Bis zur 19-Uhr-Vorstellung im Festivalpalast war nichts zu tun. Fassbinder fläzte sich im Gras. Syberberg erklärte seinen neuesten Film »Zeit zum Verlieren«. Uns war langweilig. In dieser sonnensatten, ausgedehnten Stunde schworen R. W. F und ich einander, daß derjenige, der den anderen überlebt, dessen Arbeit fortsetzt. Notfalls solle er Geschichten über ihn dichten oder Filme fälschen. Insofern wäre der Gestorbene nicht ganz tot. Wir gaben uns, mit »braunbrennendem Körper« (wird aber verbrannte Haut gewesen sein), feierlich und gegenseitig die urheberrechtliche Erlaubnis, aus dem Werk des anderen zu kopieren. Syberberg war Zeuge.
Fassbinder lebt weiter (2 Min.)
Rainer Werner Fassbinder, geboren im Mai 1945 (ungekürzt)
Peter Berling, der Biograph Fassbinders, sein ehemaliger Produzent, der in Rom lebt, bemerkt, weil ja Fassbinder nur 37 Jahre alt wurde, daß für Genies, die nicht älter als 34 oder 35 Jahre werden (wie Mozart und Bellini), der gravitative Kern ihrer lebenslänglichen Phantasien in den fünf Jahren vor und den fünf Jahren nach ihrer Geburt liege. Das, so dieser Biograph, kann sich auf Töne, erzählte Geschichten, Rhythmen, ja, auf alle Wahrnehmungen beziehen, die ein Kind aufzunehmen vermag, also auch auf Kleider, wehende Vorhänge oder die Blickrichtung der Mutter, und zwar nicht, weil solche Kinder irgendetwas vom äußeren Weltgeschehen in dieser Zeit vor und nach ihrer Geburt selber erfahren hätten, sondern weil Tausende von Eindrücken in Stimme und Gesichtsausdruck ihrer Eltern sich übertragen haben: die unendliche Erzählung, welche die Jahre einer symbiotischen Beziehung begleitet.
Das Merkwürdige: Rainer Werner Fassbinder wurde seiner Mutter als Kind von vier Monaten weggenommen. Seinen Vater hat er ganz selten und später überhaupt nicht mehr gesehen. Es ist schiere Sehnsucht, Mangel an ursprünglicher Nähe zu den Eltern, die seine Filme so hellsichtig macht.
Tagesbericht 1 zum Parallel-Projekt: Krieg und Frieden (unverfilmt)
Für das Wochenende nach seinem Tode hatte Rainer Werner Fassbinder die Absicht, sein Teilstück zum Film Krieg und Frieden zu inszenieren. Was er vorhatte, war in fünf Treffs besprochen. Da R. W. Fassbinder ungewöhnlich präzise arbeitete, konnte man diesen Filmteil, der das kollektive Projekt eröffnen sollte, vor dem geistigen Auge ablaufen lassen. In der Nacht, in der Fassbinder starb, habe ich die Anschlußsequenz an den Fassbinder-Teil zu Ende montiert. Dies sollte die Sequenz 2 werden. Ich war etwas nach 24 Uhr fertig.
Fassbinders Geschichte: Ein Mann und eine Frau, die Geschlechtsverkehr betreiben. Unerklärlich: eine idée fixe, die einen der beiden überfällt, verhindert, daß sie weitermachen. Aus der Unfähigkeit, weiterzumachen, entfaltet sich ein Streit. Dieser Streit führt für den Anderen zum tödlichen Ende.
Parallel zu dieser szenischen Erzählung wollte Fassbinder einen Dialog mit seiner Mutter einfügen. Da er dabei experimentell vorgehen mußte, hat er kein Resultat angedeutet. Es ging ihm aber um eine Verletzung: Wieviele Zufälle und wie wenig Notwendigkeit gehörte zu jener Bindung, aus der er entstanden war. Was hatten die Eltern überhaupt miteinander zu tun? Wie umfassend müssen Werke sein, an denen einer filmt und dichtet, um die Verknüpfungen nachträglich herzustellen, die die wirklichen Eltern niemals verbanden. »Alle melodramatischen Gründe sind nachträglich.« (So ähnlich oder anders, ich habe ihn jedenfalls so verstanden).
Für beide Teilstücke seiner Sequenz hatte sich Fassbinder das erste Kapitel des Buches Vom Kriege von Clausewitz durchgelesen. Dieses erste Kapitel: »Was ist der Krieg?«, handelt vom leidenschaftlichen Entbrennen, vom feindseligen Gefühl, von den drei Äußersten, von der logischen Träumerei, von der Unmöglichkeit eines einzigen Schlages ohne Dauer, von den höheren Graden der Leidenschaft, von der subjektiven Natur des Krieges, die nur dem Kartenspiel ähnelt, von der verschlagenen, unredlichen Klugheit des Krieges, von seinem Chamäleon-Charakter, vom Durchbruch des fremden Willens, von der »Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen …« Es ist klar, daß R. W. Fassbinder so etwas in der Intimsphäre ins Spiel bringen wollte. Ich war überzeugt, daß die Sequenz wesentlich länger geworden wäre als die Fassbinder-Sequenz in Deutschland im Herbst (1977).
»Wenn man sich den Neuen deutschen Film allegorisch als Mensch imaginierte, so wäre Kluge sein Kopf, Herzog sein Wille, Wenders sein Auge, Schlöndorff seine Hände und Füße et tutti quanti dies und das; aber Fassbinder wäre sein Herz gewesen (nicht politisch oder als Punkt des Ausgleichs, sondern als Gravitationszentrum, in dem die jeweiligen künstlerischen Tendenzen sich schnitten).« (Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 19. Juni 1982)
Ohne ihn ist es nicht mehr dasselbe
Daß Rainer Werner Fassbinder tot ist, weiß ich. Es heißt: »Ein Mann, der mit 36 Jahren stirbt, ist in jedem Zeitpunkt seines Lebens ein Mann, der mit 36 Jahren stirbt.« Entweder ist er also immer tot oder immer lebendig. Man kann es sich nicht aussuchen. (Alexander Kluge, Frankfurter Rundschau, 19. Juni 1982)
Fassbinders gesammelte Hinterlassenschaften (45 Min.)
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Endkorrekturen für Deutschland im Herbst © dctp.tv