Allein aus den Presseorganen der Bundesrepublik kann man ihn nicht kennenlernen. Man muß sich an die großen Universitäten der USA wenden, wenn man Rang, Autorität und Geltung von Jürgen Habermas in der Welt kennenlernen will. Im eigenen Land besitzt er loyale Freunde, aber ebenso Feinde. Das hängt mit der Entschiedenheit zusammen, mit der er zeitlebens normative Haltungen verteidigte und opportunistische Haltungen angegriffen hat.
In der Historikerdebatte (»Läßt sich nationalsozialistisches Unrecht durch Stalins Brutalitäten aufrechnen?« »Kann man Unrecht überhaupt aufrechnen?«) hat er unter Einsatz seiner Gesundheit gekämpft. Er hat (für den Strom der Gesellschaft) einen Anker gesetzt. So kurz vor der Wiedervereinigung war das, nachträglich betrachtet, von besonderer Notwendigkeit. In der Euphorie dieser Angliederung der ostdeutschen Länder an die Bundesrepublik hat er den Verfassungspatrioten dem deutschen Neu-Nationalisten entgegengestellt. Als Direktor eines Max-Planck-Instituts hat er sein privilegiertes Amt im Wesentlichen deswegen aufgegeben, weil in seinen Augen solche hochrenommierten Forschungsinstitute der Wahrheitsfindung dienen und nicht als Versorgungsunternehmen fungieren sollten; später fühlte er sich glücklich als zurückgekehrter einfacher Hochschullehrer, aber das konnte er bei Aufgabe seiner hohen Stellung nicht wissen. Als er den Begriff des Links-Faschismus (als Möglichkeitsform, im Konjunktiv – Habermas ist genauer Grammatiker) in die Debatte warf, zog er sich 1967 als unbestrittene Autorität der Linken die Gegnerschaft machtvoller Gruppen zu. Die von ihm mit Vehemenz geführten Diskurse (schon seit den fünfziger Jahren) haben die Bonner Republik in geistiger und politischer Beziehung lebenswert gemacht.
Von Immanuel Kant stammen zwei leitende Ideen: Es kommt darauf an, den Bürgerkrieg im Denken zu beenden, und ÖFFENTLICHKEIT stellt das einzige gesellschaftliche Gelände dar, auf dem Kämpfe anders entschieden werden als durch Krieg. Dies ist der Schlüssel für die Beobachtung, daß Jürgen Habermas einer der beachtlichsten Brückenbau-Konstrukteure zu sein scheint (transatlantische Brücke/Wissenschaft–Lebenserfahrung/Lebenswelt–Systemwelt/Tatsachenforschung–Geltung) und zugleich (unter Einbeziehung seiner besonderen Fähigkeiten als literarischer Autor) ein frappanter Kämpfer ist, der das Aufreißen von Gräben nicht scheut, wenn es der Sache dient. Darin erinnert er an Reformatoren und an den Einsiedler Niklaus von Flüe, zu dem die Städte der Schweiz ihre Boten schickten und der ihnen zur Kantonalverfassung riet.
Jürgen Habermas hat in vielen subtilen und heftigen Eingriffen die geistigen Horizonte der Bundesrepublik strapaziert. Das ist neben seinem philosophischen und sozialwissenschaftlichen Hauptwerk sein Verdienst um die Republik. Sein Hauptwerk, also die Bücher, habe ich aus Gratulationsgründen mit meinen Fingern nochmals Seite um Seite durchgeblättert (ohne die japanischen, koreanischen, englischen, französischen, spanischen, portugiesischen Ausgaben, so wie Werner Herzog die Grenzen der Bundesrepublik mit eigenen Füßen ablief und so wie die Abgesandten des Aristoteles hinter der Armee Alexanders von Mazedonien den Erdball bis zum Indus zu Fuß abmaßen): Es ist ein riesenhafter Kontinent. Jürgen Habermas scheint mir seiner Produktivität nach (sie nimmt im Alter bekanntlich zu) ein frühbürgerlicher Mensch zu sein. Er ist letzter Erbe der Frankfurter Kritischen Theorie, der einzigen Theorie, die voll und ganz in der Abwehr der nationalsozialistischen Bedrohung ihren Ursprung und ihre Durchschlagskraft fand. Von Freunden läßt sich Jürgen Habermas nicht gern mit Urteilen überziehen. Er achtet auf Kompetenz. Er legt Wert darauf, daß ich in meiner Kompetenz als literarischer Autor verbleibe. Als solcher darf ich sagen, daß ich mich darüber freue, daß es ihn gibt.
Entnommen aus: Alexander Kluge, Personen und Reden. Lessing–Böll–Huch–Schiller–Adorno–Habermas–Müller–Augstein–Gaus–Schlingensief–Ad me ipsum. Wagenbach: Berlin 2012, S. 76-78.