Ein Gruß zum 100. Geburtstag in 10 Folgen
Folge 8
Schwarze Spiegel: Plötzlicher Einfall von Arno Schmidt von Ende April 1945
– Er nannte die Fläche, auf der die Kriegsgefangenen hausten, den »Stacheldrahtkäfig«?
– Später nannte er das so. Wie die Kameraden seinerzeit darüber redeten, ist nicht bekannt.
– Ein eingezäuntes Lager bei Brüssel?
– Bei der Masse an Gefangenen war überall Mangel an Raum.
– Und hier unter primitiven Verhältnissen, kaum, daß er etwas auf einen Zettel schreiben konnte, hatte der Dichter den Einfall zu Schwarze Spiegel?
– Den Text schrieb er später. Jetzt erst der Einfall. In einem merkwürdigen Umfeld.
– Es geht in dem Text um einen der letzten Menschen nach der Katastrophe des DRITTEN WELTKRIEGS?
– Dieser Mensch bewegt sich durch die Heide, sucht nach Vorräten. Fahndet nach Büchern in einer zerstörten Stadt.
– Die Menschheit ist fast vollständig ausgelöscht?
– Nach fünf Jahren ohne Gesellschaft trifft dieser Robinson auf eine Gefährtin.
– Das ist dem Dichter so eingefallen? An einem Ort, wo die Gefangenen viel zu eng aufeinandersitzen?
– Auf den Latrinen immer Gedränge.
– Auf einem Zettel notiert?
– Gekritzelt. Nicht viel mehr als der Titel.
Die Erzählung beginnt am 1. Mai 1960. Der Erzähler fährt auf einem Fahrrad vom Heidedorf Cordingen nach Walsrode. In einem Haus entdeckt er menschliche Skelette und sieht einen Fuchs.
Manche hatten tatsächlich noch Ausweise auf den beinernen Brüsten : für wen wohl ? Und von verschollenen Autoritäten ausgefertigt, selbst wenn sie echt waren. Einem Mädchen sah ich lange ins Paßfoto, unters wellige Haar, auf die Bluse : und jetzt lagen ein paar gebogene Knochen neben mir, auch die Haare noch, ja, dunkelblonde; am Ende werde ich allein mit dem Leviathan sein (oder gar er selbst). Es bellte leise ums Haus; die Füchslein mochten wohl draußen schleichen, und ich tastete doch nach dem Handbeil (kurz vor Mainz, in Gaubickelheim, war ich einmal sechs Wölfen begegnet !)
Mond : als stiller Steinbuckel im rauhen Wolkenmoor. Schwarze Spiegel lagen viel umher; Zweige forkelten mein Gesicht und troffen hastig.
Er kommt von Italien her, bewegt sich nach Norden. Er besichtigt das Postamt. Dann macht er sich seßhaft. Weil sich in der Nähe ein Verpflegungslager befindet, errichtet er ein Holzhaus. Im Alkoholrausch (er hat einen Vorrat erbeutet) erscheinen ihm Bäume und Wind als Gefährten.
Die Begegnung mit einem Menschen setzt als tödliche Gefahr ein. Es wird auf ihn geschossen. Da er die Landschaft besser kennt als der Gegner, der ihn hat töten wollen, vermag er ihn im Rücken zu fassen. Als er den Feind packt, entdeckt er, daß es sich um eine Frau handelt. Bis zum Ende der Erzählung Distanz zwischen den beiden trotz körperlicher Intimität.
»Also südlich von Prag ist eine der Atomwüsten.« »Wahrscheinlich ist das der Korridor« fiel sie eifrig ein, »von Danzig bis Triest, durch den sie am Anfang des Krieges Ost und West trennen wollten – und ich habe bei Lemberg nur zufällig einen Durchgang gefunden – ?« »Höchstwahrscheinlich«, gab ich zu, und holte eine Karte von Europa : »die zweite Separationslinie, Genua-Antwerpen, habe ich gesehen.«
»Haben Sie in all den Jahren – auf allen Wanderungen – keine Menschen gefunden ?«
»Doch – zweimal.« – Einmal, noch in Rußland, vier Frauen : drei Junge, eine Alte. Dabei ein Mann.« – »Die Alte hat erst die Jungen vergiftet. Dann hab ich sie vorsichtshalber übern Haufen geschossen.« – Ich würgte heraus : »Und der – Mann ? !« Sie schüttelte verneinend den Kopf : »Blutvergiftung. 6 Wochen später.« Stille.
II
In seiner einsamen Zeit
Sechs : verwilderte Pferde, wie ? Oder ! Ich schraube blitzschnell am Mitteltrieb : Tatsache : Pferde ! Sie gingen still am Waldrand und grasten, griffen mit breiten Lippen zu : ich war bloß 300 Meter weg. – Das ist selten ! Einmal hab ich, bei Fulda, eine kleine Rinderherde gesehen, und, nach größter Mühe, ein Stück schießen können. – Also Wild hats auch hier !
Der Bahnhof : Lütt und proper. Güterwagenrot : da standen sie, einzeln und in Ketten, und ich mußte wieder daran denken, wie im vorletzten (zweiten) Weltkrieg wir Kriegsgefangene zu Fünfzigen in die Dinger gesperrt waren; die Holländer schmissen mit Dreck und Ziegelbrocken, daß die Wände knackten, furchtbar und langweilig. Auf einem Nebengleis eine kleine Draisine, und ich versuchte zum Spaß meine Kräfte daran : rollte verhältnismäßig leicht (aber es ging wohl auch bergab).
Die Trümmer : tischgroße Zementbrocken. Die Wände waren erst nach außen geblasen worden; dann das Dach eingefallen; auf dem Hügel wucherte es von Gras und Ampfer, Hirtentaschen und Taubnessel : hatten sie auch das kleine Ding in die Luft jagen müssen ! Ich ging noch näher und bohrte mit der leeren Fläche im Gebröckel.
Neue Metamorphosen (frei nach Ovid, fiel mir in einem Ruinenfeld ein) : Ein Windgott, Flöse, verwandelt eine vor Russen fliehende Berlinerin in einen töhnenden Schornstein. Oder den von Polypen verfolgten Waffenschmuggler in einen Tramdampfer der Reederei Rickmers. In den Unterführungen des Dammtorbahnhofes saßen sie noch aufrecht, hart oder betend, auf Koffern und Hutschachteln, in dumpfen und karierten Kleidern; ein Mumienkind drückte’s Gesicht in den dürren Schoß der grauseidenen Mutter : und ich schlenderte hallend, den Karabiner auf der Patronentasche, den Finger am Hahn, durch die Reihen der lederbezogenen Totenhäupter […]
– Die Pflanzenwelt scheint unberührt. Auch sind Tiere da.
– Das Ganze ist ein Garten Eden anstelle der lästigen Zivilisation.
– Lästig wie ein Gefangenenlager? Massenhaft besiedelt?
– Daher die Anspielung auf Robinsons Insel. Der Erzähler und Protagonist legt seinen Sitz gleich neben dem Proviantamt an, so wie Robinson seine Höhle aus den Vorräten des gestrandeten Schiffs versorgt. Wo ich Ressourcen finde, siedele ich.
– Das zeigt intakte Verhaltensweisen. Im Gegensatz zu Robinson, der nach London zurückstrebt und nach Gesellschaft hungert, fühlt sich aber der Erzähler in endgültiger Einsamkeit wohl.
– Aber die zwei Seelen, die dann aufeinandertreffen, zeigen Trümmercharakter? Die Katastrophe hat ihnen doch zugesetzt?
– Finde ich nicht. Die beiden, die einander begegnen, sprechen Texte, die aus jedem Gegenwartsroman stammen könnten.
– Ich finde: Die Näheverhältnisse sind gestört. Eben noch geht es um Kampf »auf Tod und Leben« und gleich darauf »Waffenstillstand für 100 Jahre«. Das Erlebte zeigt sich als Ungleichgewicht.
– Gehen Sie denn davon aus, der Protagonist der Geschichte und der Dichter seien eine und dieselbe Person?
– Das nehme ich an.
– Dann hat der Autor, eingepfercht mit den Kameraden auf engem Raum, sich als allmächtiger Erzähler ein eigenes Reich, eine Heidelandschaft, wie er sie sich wünscht, als Idee geschaffen, mitsamt einer Gefährtin, die er an sich zieht oder wegschickt, wenn die Erzählung enden soll. Alles wie bei Stanislaw Lem in Solaris.
– Der Charme des Neuanfangs.
– Ist Arno Schmidt zynisch?
– Überhaupt nicht.
– Wenn er sich doch wünscht, daß die allmähliche Wiedervermehrung der Menschheit möglichst lange Zeit in Anspruch nimmt?
– Das gehört zur Gründlichkeit. Eine zweite Schöpfung ist eine Reinschrift.
– Hier heißt es: »Ein Windgott, Flöse, verwandelt eine vor Russen fliehende Berlinerin in einen stöhnenden Schornstein.« Worauf bezieht sich das Stöhnen?
– Auf das Sterben der Industrie. Erst in Berlin, dann im Ruhrgebiet, dann überhaupt.
– Das weiß der Autor aber doch im April 1945 nicht.
– Er weiß auch nichts von der Zertrümmerung der Welt im Dritten Weltkrieg.
III
Der letzte Mensch und seine Gefährtin (beide aber nicht darauf erpicht, wie Robinson und sein Knecht in Menschengesellschaft zurückzukehren) hatten einen Waffenstillstand geschlossen, nachdem der Erzähler die bewaffnete Frau überwältigt hatte. Eine Zeitlang lebten sie mit den Attributen eines Liebespaares zusammen.
Ihr Blick umfaßte mich weit und voll transzendenter Bitterkeit.
Es stellt sich Routine ein. Aber immer wieder bricht eine »große Welle Zärtlichkeit und Glück« über die beiden herein. Eines Tages:
12 Uhr ! Da standen wir mit den dampfenden Schüsseln in der Hand, und sie zischte wie eine Natter : »Der Waffenstillstand läuft ab ! Mein Gewehr ! – Und Munition !« Ich setzte das leckere Rund hastig auf den Tisch, lief und gabs ihr : »Wo ist das Schloß ? !« hetzte sie giftig. »Ja – ischa Waffenstillstand«, sagte ich patzig : »Das hab ich noch von gestern !« Sie atmete unruhig : der Bratenduft ! »Verlängern wir ihn !« schlug ich vor; trat vor sie hin, ganz dicht : so viel Männlichkeit und Bratenduft ! Ich wurde ernst; ich sagte : »Lisa –« (heiser) : »für hundert Jahre, ja ?« Sie nickte mit dem Kopf nach Seite : »Gut –« hauchte sie mit seltsamem Lächeln : »also zunächst für hundert Jahre.« Und dann zogen wir im Triumph mit dem Tablett hinaus, hockten im Rasen und hantierten mit spitzen und runden Instrumenten, erfunden von Verschollenen.
Das Gewitter stand über Stellichte mit schweren geschmiedeten Wolken (Luft wie heißes graues Glas). Alle Vögel versteckt; nur drüben kreischte Maschinen das Häherpaar.
Seit Vergils Beschreibung der Höhle, in der Aeneas und Dido erstmals zueinander finden, weil sie ein Unwetter, gesandt von den Göttern, dorthin treibt, enthalten alle großen Liebeserzählungen eine Gewitterszene. Hieran ändert auch die in Trümmern gelegte Welt und die geringe Chance, daß einsame Menschen überleben, nicht das geringste. Eines Tages zeigt die Gefährtin des Erzählers, daß sie entschlossen ist, ihn zu verlassen. »›Aber kein Mensch kann für seine Natur. Entwurzelt durch drei Kriege, ach.‹« »›Ich muß !‹, erklärte sie entschlossen, ›ich werde bei Dir – ich weiß nicht – dicker und klassischer.«‹ Sie war ein Unruhegeist. »› Ich bin verrückt !« stellte sie stöhnend fest.«‹ Der vorher einsame und jetzt wieder in Gesellschaft befindliche Mann, der Erzähler, glaubt nicht, daß sie ihn tatsächlich verlassen wird. Dann ist sie verschwunden.
Gegen Morgen kam Gewölk auf (und Regenschauer). Frischer gelber Rauch wehte mich an : mein Ofen ! So verließ ich den Wald und schob mich ans Haus : der letzte Mensch.
(Redaktionelle Bemerkung: Diese Geschichte war für das Buch 30. APRIL 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann vorgesehen, wird aber in diesem Band, der im April 2014 erscheint, aus thematischen Gründen nicht veröffentlicht. Das betreffende Kapitel, zu dem der Text gehörte, sollte den Zusammenhang herstellen zwischen Kriegsende und Kaltem Krieg; Kluges Interesse richtete sich besonders auf die NATO-Kommandostabsübung Able Archer im Jahre 1983, also auf die Gefahr eines schweren Atomschlags. Arno Schmidt entwickelte die Idee zu seiner Erzählung Schwarze Spiegel als britischer Kriegsgefangener in einem Lager bei Brüssel Ende April 1945. Alexander Kluge verblüffte es, wie Arno Schmidt am Ende des Zweiten Weltkriegs den Blick auf einen Dritten Weltkrieg gerichtet hatte.)
Abbildungen aus dem Kollektivfilm Krieg und Frieden (Alexander Kluge gemeinsam mit Stefan Aust, Heinrich Böll, Axel Engstfeld, Volker Schlöndorff) aus dem Jahre 1982.