Ein Gruß zum 100. Geburtstag in 10 Folgen
Folge 7
Nie nur im Kriegsdienst, immer auch Sternenforscher!
Durchaus interessierte sich Arno Schmidt für die Ereignisse des Jahres, das mit seiner Geburt begann. Es war aber, nachdem Hitler 1940 den Ersten Weltkrieg nachträglich gewonnen hatte (also in der Zeit, in welcher der Erzähler mit seinen Niederschriften begann), kein Adressat mehr da, der sich Geschichten über die abgeschlossene Periode vor fast 30 Jahren hätte erzählen lassen: an sich beleidigend, da ja Arno Schmidts Geburtszeitpunkt noch vor Beginn jenes Krieges lag.
Binnen einer Generation überholt? Wie von Schnee überdeckt, wie die Toten Österreich-Ungarns in den Pässen der Karpaten? Gerade jetzt in stürmischer Neuzeit wirkte sich der Wegfall aufmerksamer Zuhörer (oder gedachter Leser) für die Stollen der Erzählung verhängnisvoll aus. An den Fenstern der Kaserne, in welcher der Dichter Listen über verbrauchte Munition schrieb, glitten in ununterbrochener Folge die in Bäche und Schlieren verwandelten Regengüsse eines Atlantiktiefs herab, das hier im Herzen Frankreichs noch über alle Kräfte verfügte, die es der weiten Meeresfläche entzogen hatte.»Wasser und Eisen! Bald wird Wasser zu Schnee!«
»Was für Flocken mag Eisen bilden,
wenn es aus der Sonnenatmosphäre
auf den rasenden Glutball niederklatscht.«
Nie nur im Kriegsdienst, immer auch Sternenforscher!
Erkenntnis, vom Himmel gepflückt
Er ging davon aus, daß nach Kriegsende 1945 ein 35jähriger Kriegsgefangener mit geringerer Wahrscheinlichkeit zum zwangsweisen Arbeitseinsatz rekrutiert werden würde als einer von 31 Jahren. Daher fälschte er in seinem Wehrpaß sein Geburtsdatum um vier Jahre. Die Jahre fehlten ihm später bei der Ausgestaltung seiner Biographie. Er füllte die Lücke mit der Angabe, er habe in den betreffenden Jahren ein Studium der Astronomie in Breslau aufgenommen, das er im Jahre 1933 abbrach. Als Zeichen der Abwendung von der damaligen zeitgenössischen Präsenz schien ihm der Wegfall des Interesses am Kosmos geeignet. In diesem Lebensabschnitt (er dauerte, bis Schmidt seine Personaldokumente verbrannte und zur ursprünglichen Zählung seines Lebensalters zurückkehrte) gelang ihm die Entdeckung von neugeborenen Sternen im Orionnebel, der sich unterhalb des Gürtels des Orion befindet und bereits mit einem Feldstecher beobachtet werden kann.
Es handelte sich um eine Geschwisterschar von elf Raumkörpern, die man noch nicht Sterne nennen konnte, die aber auch keine kosmischen Schutthalden mehr darstellten, da Reibung und Nähe der bereits versammelten Raumbrocken und Gasfächer ein zartes Glühen andeuteten, ähnlich, so Schmidt, einer in zwei Meilen Entfernung gerauchten Zigarette. Es wäre aber keinem Raucher möglich gewesen, diesen Eindruck der fernen Protosterne zu imitieren, weil ein Mensch, der an einem Glimmstengel saugt, diese Zugrichtung nicht über einen derart langen Zeitraum aufrechtzuerhalten vermag, wie immer er sich auch bemüht. Die elf Sonnen standen noch in lebhafter familiärer Wechselwirkung. Sie schossen, so Schmidts Bericht, »wie Geier« aus der Nebelmasse hervor. Mit einer von Schmidts Logarithmentafeln, die nie publiziert wurde, hätte man ihre relative Bewegung zueinander recht genau beschreiben können. Sie strebten in Hast aus dem Dickicht der sie umgebenden Gasmassen heraus, als seien sie auf der Flucht. Fürchteten sie, von der Materie, deren Umkreis sie zu verlassen trachteten, zurückgeschluckt zu werden?