Ein Gruß zum 100. Geburtstag in 10 Folgen
Folge 6
»Mein Vater war Trommler beim Zaren, bei mir ist alles Natur!«
Nur 14 Jahre verbrachte Arno Schmidt, 1914 geboren, in der Gesellschaft seines Vaters. In seinem ersten Lebensjahr wird er den GROSSEN SCHATTEN kaum wahrgenommen haben. Auch war dieser Vater später längere Zeit als Freikorpskämpfer im Baltikum für die Kinder absent. Fuhren diese in den Ferien nach Schlesien, kam der Vater nicht mit. Die Schnittmenge an gemeinsamer Lebenszeit von Vater und Sohn reichte für keinen Konflikt, aber auch für keine Nähe oder Kumpanei.
So sind es Großmutter, Mutter und Schulklasse (nebst Lieblingslehrern und Unterrichtsstoff), die ihren Umriß auf den künftigen Dichter werfen. Oft verriegeln die Väter den Sprudeltopf (oder Flaschenhals) ihrer Söhne wie mit einem Korken, indem sie prägenden Einfluß nehmen. Glücklich die Zauberflasche, die unverschlossen bleibt. Dennoch ist für den STROM DES GEISTES ein Stau in der Flasche notwendig, ebenso wie die Möglichkeit, daß die Botschaft sich aus der Flasche löst. Der Flammensud der Worte (wie der Rauch einer Feuerstelle) wird durch Überdecken des Feuers mit einem Tuch und durch anschließendes Wegziehen dieses Hindernisses zum RAUCHZEICHEN, wie es die Praxis der Indianer uns lehrt und sich in manchem Werk Karl Mays niedergelegt findet.
»Der Wind knitterte im Taft der Nacht«
Am Tage, an dem General von Loßberg im September 1918, von Ludendorff einbestellt, seine vernichtende Beurteilung der Kriegslage abgegeben hatte (Ost-Divisionen sollten hermetisch Westfront und Heimat voneinander trennen, im übrigen Rückzug auf allen Fronten, dann könne man es bis Sommer 1919 aushalten), traf im Großen Hauptquartier in Bad Kreuznach eine slawisch-sächsische Erscheinung ein, unehelicher Sohn des Radebeulers, die Hakennase und das Blauauge wie geklont, im Widerspruch zu der Erfahrung, daß Intelligenz und Erzählkunst nicht über die DNA vom Vater auf den Sohn übertragen werden. Der Mann trug Zylinder. Er zeigte seinen Henrystutzen vor. Er wurde nicht empfangen.
Einem der Fahrer im Fahrzeugpark des Generalquartiermeisters erläuterte er bei einem Bierchen in der Kantine seinen Vorschlag, wie das Deutsche Reich noch zu retten sei. Allgemeine Einführung des Henrystutzens, neue Anschleichmethode an die Grabensysteme des Feindes, in Analogie der Annäherung an ein Lagerfeuer der Komantschen. Das hätte so schon lange Zeit nahegelegen, sagte er, nämlich seit August 1914. Außerdem sollten aber – aus Gründen der Kriegslist – im linksrheinischen Gebiet (die Michael-Offensive war gescheitert, und die Alliierten rechneten mit keiner neuen) verfügbare Güterzüge auffällig hin und her (vor allem aber in Richtung Norden) rangiert werden. Allein im Umkreis des Großen Hauptquartiers, meinte der Besucher, habe er zwölf Spione bemerkt. Ihr Nutzen bestünde darin, daß sie die Vortäuschung von Truppen und Munitionsbewegungen in der beschriebenen Art, die eine NEUE, ERWEITERTE OFFENSIVE andeuteten, rasch mit ihren Auftraggebern kommunizierten. Einen Spion erkennt man, indem man ihm ins Auge blickt und in der Pupille ein verräterisches Funkeln feststellt. Zugleich ist eine leichte Verfärbung der Iris zu sehen, sonnenblaß bei Dunkeläugigen. Mit Gewißheit reiche eine Täuschung der Entente aus, so der Besucher, um den Feind mit dem »deutschen Schrecken« so zu versehen, daß es zum »Siegfrieden« käme. Nichts fürchten nämlich der Engländer und der Franzose mehr als das blitzende Auge, das über das Korn des Henrystutzens zu zielen beginnt. Der Diktatfrieden wäre auf einer Schreibmaschine der Marke Adler auf nicht mehr als elf Seiten festzuhalten und, sobald er unterschrieben wäre, von den Repräsentanten des Gegners durch Boten über den Rhein gebracht, auf einem Holzstoß dem Feuer zu übergeben. Der blitzartige Coup beruht auf dem großmütigen (für Deutsche charakteristischen) Verzicht auf den papierenen Vorteil. Der Phantasie des deutschen Reiseschriftstellers, so der Sproß des sächsischen Janus, sei kein RING DER FEINDE, kein KOSMOS, ja auch nicht das eigene Land gewachsen. Gegen Abend war der seltsame Dichter von der Militärpolizei verhaftet und einem Truppenarzt vorgeführt worden. Er wiederholte dort seine Aussage, die er als »letzten, entscheidenden Ratschlag vor Ende des Reiches« bezeichnete. Ein Sachbearbeiter des Eisenbahnwesens, der dem General Groener unterstand, hielt vorsorglich elf Güterzüge bereit, die quer zur Front das vorgeschlagene Täuschungsmanöver hätten durchführen können. Die Idee setzte sich dann sowenig durch wie die Einführung des Henrystutzens.