Ein Gruß zum 100. Geburtstag in 10 Folgen
Folge 5
»Nichts. Niemand. Nirgends. Nie.«
Das Vorbild für Thomas Manns Berichterstatter Serenus Zeitblom im Doktor Faustus war bekanntlich der Studiendirektor Knorre, der vergebens Thomas Mann (brieflich) davon zu überzeugen suchte, die Kompositionen des Adrian Leverkühn nicht nach der Methode Arnold Schönbergs zu modellieren. Besser geeignet schien ihm der zeitgenössische Meister Bernd Alois Zimmermann, den er später ebenso vergeblich in einem Briefwechsel Arno Schmidt andiente.
Bei einem Kurzbesuch in Köln mit Vorsprache im Westdeutschen Rundfunk geriet Arno Schmidt tatsächlich in die Nähe dieses Tonsetzers, der als Redakteur beim Sender beschäftigt war und in der Betriebskantine eine Mahlzeit zu sich nahm, als der Dichter den Raum betrat. Zwölf Meter waren die beiden auseinander! Der Poet hätte (Zimmermann war Jahrgang 1918) Erfahrungen aus seiner Lebenszeit mit denen des Komponisten austauschen können (auch waren beide Soldaten gewesen). Obschon hungrig, zögerte Schmidt, die Kantine zu betreten, in der bereits zwölf Leute saßen. Zu viele Leute um einen ungestörten Platz zu finden. Schon strebte dichtes Menschenvolk zu einer frühen Mittagspause.
Im Kantinenraum wäre er, an einem der Tische angekommen, immer noch mit dem Problem konfrontiert gewesen, sich zu dem Musiker zu setzen und ihn als Geistesgefährten und Mitlebensläufer (somit als einen wichtigen Kontakt) begrüßen zu müssen. Er konnte nicht allein dasitzen und gleichzeitig mit dem anderen ins Gespräch kommen. Einen Moment lang jedoch hatte ihn die einsame (und eigensinnige) Erscheinung des Komponisten (der sich hier als Redakteur maskierte) angezogen. Ist kein Platz frei? hätte er fragen müssen. Dann hätten sie miteinander gesprochen, wie es in einer Erzählung leicht möglich wäre. Das galt nur für den Fall, daß es überhaupt Schmidts Art gewesen wäre, menschenhungrig einen Geistesgefährten an unerwartetem Ort zu treffen oder auch nur zu suchen. Wäre Dr. Knorre als Vermittler dagewesen (aber keiner der beiden Künstler konnte die Nähe eines Dritten ertragen), hätte das Projekt eines gemeinsamen Werkes einen Platz in der Welt gefunden. In Betracht kam, vermutet Dr. Knorre, der von dem Beinnahetreffen zu spät erfuhr, die Vertonung eines Chorwerkes (auf vier Chor-Säulen verteilt, die in den vier Ecken des Konzertsaals der Kölner Philharmonie zu stehen kämen) auf den Text:
»ICH WAR ALLER WORTE MÜDE«
Zimmermann brauchte für ein Kirchenschiff voller Musik nicht mehr als fünf Worte. Von solchem Rohstoff lag in Arno Schmidts Werk zu diesem Zeitpunkt eine unübersehbare Menge.
Unser Leben ist eine Dauerrevolte, sagen die Wörter
Zur gleichen Zeit, als in der Kaltsteppe unsere Vorfahren in Erdgruben junge, unerfahrene Mammute fingen, bildeten sie in ihrer Kehle eine Falle für die Dosierung von Luft und Schall. Bald konnten sie eine Unzahl von Lauten hervorbringen, für die sie noch keine praktische Verwendung hatten. Aus dieser Eroberung entstanden Lebewesen: die Wörter. Bald gründeten sie eine Republik, die Sprache. Ihre selbstbewußten, unanfechtbaren Einwohner gehorchten lange Zeit (aus Gutmütigkeit, aus Höflichkeit, aus Geselligkeit) auch Zwecken. Sie trugen Lasten. Sie taten so, als seien sie Lastenträger. Ihrer Natur nach waren die Wörter nie Arbeiter oder Diener.
Eines Tages im 20. Jahrhundert schritten sie zur Revolte. In Finnegans Wake ist eines dieser widerborstigen, aufständischen Wesen am Werke. Es wird dann zur Bezeichnung für die elementarsten Kräfte der Natur, die QUARKS:
»Three Quarks for Muster Mark«
Die Genealogie der Sprache, so der Philologe Anselm Haverkamp, zeigt eine generelle Nervosität der Wörter, deren subtilen Ungehorsam, ihrer Natur nach. Äußerlich dagegen marschieren sie im Gleichschritt, folgsam den Funktionen, die der Alltag ihnen auferlegt. Als Treibmittel des Zorns und der Exzesse üben sie in unserer Zeit Mäßigung. Bald nach ihrer Revolte sahen sie sich isoliert. Sie werden in der Formation des allseitigen Aufstands nicht gebraucht. Sie finden sich wieder auf Inseln. Sobald sie sich vom Sinnzwang befreit hatten, verhungerten sie.
Wie die Brüder Gracchus, wie Spartacus, wie Toussaint L’Ouverture beschleunigten Joyce, Schwitters, Hans G Helms, Arno Schmidt, Reinhard Jirgl die Befreiung der Wörter von ihrem Joch, boten Kolonisation, also neue Äcker für die Sklaven. Aber arbeiten wollten die Sklaven nicht: Wir sind nie Sklaven gewesen, sagten die Wörter, wir lassen uns nicht wie römische Legionäre oder wie Sklaven des Spartacus neu ansiedeln. »Bei der Mehrheit bleiben, selbst wenn sie irrt.« So bleiben wir bei den Menschen, deren Kehle uns gebildet hat, die uns in tausenderlei Verbreitungsformen inzwischen digital klonen (das ehrt uns), AUCH WENN SIE IRREN.
Unsere Revolte ist eine Dauerrevolte. Wie will man uns unterdrücken, wenn wir der Grund dafür sind, daß es die Menschheit und deren Verfassung überhaupt gibt? Wir sind selbstbewußte Lebewesen, man darf uns, die Wörter, nicht unterschätzen.
»As the lion in our teargarten remembers the
nenuphars of his Nile […] the besieged bedreamt
him stil and solely of those lililiths undeveiled
which had undone, gone for age, an knew not the
watchful treachers at his wake, and theirs to stay.
[…] Zeepyzoepy, larcenlads! Zijnzijn Zijnzijn!
[…] (Twillby! Twillby!)«