Ein Gruß zum 100. Geburtstag in 10 Folgen
Folge 3
»Wenn ich für einen Menschentyp anfällig bin, dann sind es die Sammler«
Von Th. W. Adorno weiß man, daß er es in seiner gesamten Lebenszeit ablehnte, sich zu einem »erwachsenen Mann« zu entwickeln. Er bezweifelte nicht nur, sondern dementierte überhaupt, einer bestimmten geschlechtlichen Gattung anzugehören; lieber wollte er sich »polymorph-pervers« nennen lassen, denn als »uniformiert« aufzutreten. Er stützte sich dabei auf E.T.A Hoffmann, Mozart, Kleist, S. Freud, auch auf die Aussagen Wiedergeborener, die im Elysium Zeugen für diese Seelenhaltung gesprochen zu haben behaupteten.
Einige der großen Schreiberinnen, die um 1800 unter dem Namen der Männer publiziert hatten, mit denen sie zusammenlebten, meinten, im Stadium einer Nymphe (nicht etwa Jungfrau) verblieben zu sein, besaßen sie doch ein Tarnkleid oder eine zweite Haut, die sie auch bei reichlichem Geschlechtsverkehr und bei Geburten nicht verloren. Auch sie lehnten das Hineinwachsen in eine etablierte Rolle ab: lieber Seelenteilung, nämlich Bewahrung einer INTAKTEN SEELE neben einer zweiten GEBRAUCHSSEELE, so wie es Zellteilung als Methode der Fortpflanzung gibt.
Insofern haben die Menschen im Jahr 1000 nach Christus, die sich (in Erwartung des Jüngsten Gerichts) massenhaft in Klöstern versammelten, sich spirituell verjüngt, wobei die Verjüngung wenig später auf die Knochen und Zellen übergriff. So starben sie »jung«. Sie hätten begonnen, heißt es, in Irland und auf einigen Inseln der Ägäis sich durch Parallelismus zu verdoppeln, ungeschlechtlich, durch Emanation und Zuwahl. So entstanden kurze Zeit lang jüngere Menschheiten, bis diese Bewegung zerfiel, weil das Weltende offensichtlich nicht eintrat und die alte Erwachsenheit, die Tausende von Jahren dominiert hatte, erneut die Macht ergriff.
Verjugendlichung
Lebewesen, deren Entwicklung in einem frühen Stadium ihres Lebens innehält, die also nie erwachsen werden, bilden in der Evolution ein unbezwingliches Fortschrittspotential: die JUVENIFIZIERUNG. So ist Arno Schmidt, behauptet der Beobachter Hans Dieter Müller, der ihn am 3. November 1962 besuchte, im Alter von zehn, allenfalls zwölf Jahren im Kontext seiner Schulklasse (wie in einem Dornröschenschloß) seelisch petrifiziert und in dieser Ausstattung dann älter geworden: ein JUNGATHLET DER PHILOLOGIE (auch der Mathematik, der Vermessungskunst, des Bastelinstinkts, der Wortklempnerei, ein Mann des Eigensinns, Exemplar eines ZUKÜNFTLERS, wenn aus dem Menschengeschlecht je noch etwas werden sollte).
Schmidt erinnere ihn, so Müller, an eine merkwürdige Art von Mönchen, die sich durch Zuwahl und nicht durch Zuchtwahl vermehren, Eigenbrötler des Geistes, insofern Solitäre oder Rohdiamanten. So sind wir Menschen bis ins Alter in einem Stadium festgehalten, das dem Jugendalter unserer Vorfahren entspricht. Wir nehmen am Wissen der Gorillas nicht teil, wenn diese Ritter des Waldes so kenntnisreich zwischen den Blättern und Kräutern zu unterscheiden wissen und sich dafür viel Zeit nehmen. Müllers Einschätzung, daß Arno Schmidt dem Status des Erwachsenen ausweiche, bestätigte eine Bielefelder Soziologin, die Schmidt in dessen Todesjahr (in Begleitung eines Journalisten) an seinem Wohnsitz besuchte.