Wieder warmes, strahlendes Sonnenlicht, Sonntagmorgen sehr früh, später August, die letzten Tage des Sommers, schon irgendwie müde durch die Glasscheiben, durch die Augen da am S-Bahnsteig. Dann: Berlin-Hauptbahnhof-Ungeheuer. Tief. Voll mit Leuten. Voll mit Hertha- und Dortmund-Fans (eine andere Art Berliner Luft um acht Uhr morgens). Geschwätzt und gesungen wird fast bis Hannover. Alles noch erstaunlich grün – norddeutsches Flachland, Jungwald und Pferd.
Ich fahre heute nach Straelen, fast an die holländische Grenze. Ziel: das Europäische Übersetzer-Kollegium, mitbegründet von Elmar Tophoven (zu Lebzeiten deutscher Übersetzer von Samuel Beckett), ein Sohn Straelens.
Ich fahre nach Straelen, um das 12. Straelener Atriumsgespräch zu moderieren. Zusammen mit Lutz Seiler werden fünfzehn Übersetzerinnen und Übersetzer aus der ganzen Welt an seinem Roman Kruso arbeiten. Fünfzehn verschiedene Sprachen – Armenisch, Bulgarisch, Chinesisch, Dänisch, Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Katalonisch, Niederländisch, Norwegisch, Polnisch, Schwedisch, Spanisch und Ungarisch.
(Windmühlen. Schattenspiele im Vorübergehen.)
Das Übersetzen als Lehre.
Der Dichter George Oppen hat einmal geschrieben: »Alles spricht, wenn es spricht, in der ihm eigenen Form. Ich weiß nicht warum. Vielleicht könnten wir es Musik nennen. Das Wort, das richtige Wort, es scheint außerhalb von uns zu stehen – wie glänzende Gleise in der Nacht, und sogar der Weg fort von daheim. Ich nehme an, es ist Musik. Es steckt ein Geheimnis darin: Das Geheimnis ist, dass das Ohr es weiß.«
Hannover: Pace. Kurt Schwitters / Mr. Merz.
Dortmund: Der Zug leert sich. Endlich Ruhe. (»Es gibt doch Sehenswürdigkeiten im Ruhrgebiet«, hat der junge Mann gesagt, während Ziemlich viel Mut von der Kaschnitz in meinem Kopf hallte).
Essen: Niemand steigt ein. Schatten am Bahnsteig.
Glas, Stahl, Gleise und Grau: Wie wäre das ohne Sonnenschein? Aber ein kurzer heller Blick, lila, zwischen den Gleisen.
Duisburg: Nur eine Person. Bahnsteig verhältnismäßig leer.
(Ein Außer-sich-sein. Aber wie lange schon?)
Eine Station in der Nähe von Düsseldorf namens Fortuna.
Soeben in Straelen angekommen. Hitze, starke Sonne, Zimmer 8 oben, Kirchenblick, ich sitze zwischen Poe und Pound im Regal: perfekt! (Und an der Wand zwei Fotos einer Inszenierung von Warten auf Godot). Hier im Haus (eigentlich fünf Häuser, das älteste stammt aus dem 12. Jahrhundert) gibt es mehr als 125.000 Bücher – darunter 35.000 Lexika in 275 Sprachen und Dialekten und sogar die komplette Reihe einer Enzyklopädie von 1788 –, sie füllen buchstäblich jeden freien Platz. »Eine Bibliothek mit Schlafzimmern« hat das einmal jemand genannt. Das weltweit erste und größte internationale Arbeitszentrum für professionelle Literatur- und Sachbuch-Übersetzerinnen und Übersetzer überhaupt – so einen einmaligen Ort habe ich noch nie im meinem Leben gesehen.
(Backsteingesicht / Kirchturm / Taubendächer / spätschimmernde Luft.)
Stadtrundgang mit dem »alten Hasen« und Hermann-Broch-Experten Ljubomir Iliev. Kurzer Abstecher in die Gastwirtschaft Zum Goldenen Herzen. Hervorragende Führung durch das Kollegium von Frau Birkenhauer, deren Mann Klaus Birkenhauer auch einer der Gründer des Kollegiums war. Der erste Abend (von mehreren) wird in der Küche verbracht, mit den anderen, die schon anwesend sind.
Früh genug wach und los. Bayern 4 Klassik. Ein paar Postkarten und wieder Sonne – welch ein Geschenk – und heute herbstliches Licht. Die meisten Teilnehmer werden erst am Nachmittag da sein.
Kruso. 480 Seiten, drei Tage. Das heißt 160 Seiten am Tag. Morgen geht’s los.