Lückentext
_________ abertausend Reformen ist die Verfassung von 1980 ein Dreck.
a) Bei den
b) Wegen der
c) Trotz der
d) Dank der
e) Ungeachtet der
So zu lesen auf einer Seite in Alejandro Zambras Buch Multiple Choice, die jemand abfotografiert und während der Protesttage an eine Bushaltestelle geklebt hat. Sie zeigt auf ihre Weise seinen Blick auf die Diktatur, in der er aufgewachsen ist und vor deren Hintergrund einige seiner Bücher spielen.
Wie siehst du Chile in diesem Augenblick, in dem die Wirklichkeit jede Fiktion übertrifft?
Nun, was soll ich sagen. Piñera und sein Cousin haben auf die Krise mit reiner Arroganz, autoritärem Gehabe und ausgeprägter Dummheit reagiert. Erwartet hatte ich mir zwar nichts von ihnen, und allein die Tatsache, dass sie wieder an die Macht gekommen sind, klang schon nach Tragödie, aber es schmerzt und empört doch, wenn man bestätigt findet, wozu sie fähig (oder unfähig) sind. Zugleich spüre ich diese schwindelerregende, ansteckende Hoffnung, dass sich dank der mutigen Massen, die demonstrieren, die Dinge ein für alle Mal ändern werden.
Ich habe gerade gesehen, dass ein paar junge Leute bei den chilenischen Protesten eine Seite aus Multiple Choice als Plakat aufgehängt haben, und das bewegt mich zutiefst, denn auf diese Weise bin ich gegenwärtig. Seit drei Jahren lebe ich im Ausland, zwar fahre ich oft nach Chile, aber in diesen Tagen spüre ich die Entfernung weitaus stärker, tausendmal stärker. Ich klebe den ganzen Tag am Radio, bin in den sozialen Netzwerken unterwegs und telefoniere mit meinen Freunden über Lautsprecher, während ich mit meinem Sohn und ein paar Wollgiraffen aus Oaxaca spiele und mich frage, wie ich ihm später einmal diese Geschichte erzählen werde. Ihm und auch mir selbst. Zeiten wie diese werfen unweigerlich die Frage auf, wie viele Meter Glück du brauchst, wie sehr du das imaginäre Haus vergrößern willst, in dem alle Menschen Platz finden sollen, die du beschützen möchtest.
Was hat dich dazu geführt, die Diktatur in der Fiktion aufzuarbeiten?
Ich glaube, die Fiktion ist ein Weg, sich der Wahrheit anzunähern. Durch das Schreiben will ich immer, so präzise wie möglich, etwas entdecken, das, was ich denke, was ich fühle, will die eigenen und fremden Überzeugungen hinterfragen, denen ich misstraue. Die Erfindung der Kindheit ist ein Roman über die Schwierigkeit, die Kindheit von der Diktatur zu unterscheiden, die bei meiner Generation zusammenfielen. Außerdem ist die Kindheit immer eine Art Diktatur der Eltern und ebenfalls Fiktion. Wir glauben, uns an alles zu erinnern, und wissen zugleich, dass wir uns ungenügend erinnern, wir erzählen uns selbst die Kindheit wie einen Roman. Es ist natürlich auch ein Roman über den Generationenkonflikt, über die Rechtmäßigkeit, über zerbrochene Träume, über die, die das Privileg haben, die Geschichte zu erzählen. Es ist ein Roman, der sozusagen gegen die Autorität des Autors geschrieben wurde. Ich weiß noch, dass mich nach der Veröffentlichung Leute ganz wohlwollend gefragt haben, warum ich denn immer noch von der Diktatur rede. Inzwischen liegt auf der Hand, dass man im heutigen Chile über nichts sprechen kann, ohne das Thema der Diktatur anzuschneiden. Erst wenn wir eine neue Verfassung haben, können wir einem Neuanfang entgegensehen.
Die Erzählungen in Ferngespräch entsprangen dem Wunsch, die schwierige Jugend zu verstehen, um Claudio Giaconi zu zitieren. Diesen Moment, in dem wir gleichzeitig in die Demokratie und die Pubertät eingegangen sind und sie manchmal verwechselt haben, denn man bekam mehr Freiheiten, durfte später nach Hause kommen, man war fünfzehn und hielt das für die Demokratie. Die neunziger Jahre waren für mich schwerer zu erzählen, und aus dieser Schwierigkeit heraus sind diese Erzählungen entstanden.
Multiple Choice, das ist ein Buch über die Schule als hemmungslosen Konkurrenzkampf, über das Prinzip des Triumphs, das man uns eingeschärft hat, über die Illusion einer einzigen Antwort, über diesen Diktator-Gott, der alle Antworten hatte. Es ist mein bitterstes Buch, es zu schreiben, war eine qualvolle Übung in Selbstkritik. Ich war erschüttert, als ich mir etwa den Teil des Sprachtests angesehen habe, den man »Entbehrlicher Satz« nannte. Sätze zu streichen, zu zensieren, das brachte man uns bei. Solche Übungen gab es zum Glück nicht in der Aufnahmeprüfung für die Universität, der PSU, die ansonsten der gleiche Dreck ist. Multiple Choice ist aber auch eine verschleierte Liebeserklärung an die Literatur. Mit achtzehn wollte ich einfach in die Vollen gehen, aber sehr bald schon, mit zwanzig, war die Literatur nicht mehr ein bloßes Spiel oder wurde zu einem radikalen: die Strukturen umstürzen, Sätze hinzufügen, statt zu streichen, und die Wörter, das Sprechen, den wahren Humor, das Poetische zurückerobern. Schreiben ist ein Kampf gegen Vereinfachung und Dummheit.
Welche Beziehung besteht für dich zwischen Schreiben und Ethik, und wer waren deine Lehrer in dieser Hinsicht?
Ich verbinde das Ethische mit der Hartnäckigkeit, mit der konsequenten Verfolgung der eigenen Obsessionen, dem Impuls zur Selbstkritik. Also nicht das zu schreiben, was gerade in Mode ist oder was von einem erwartet wird, sondern das, was einen begeistert und aus der Bahn wirft. Meine Lehrer waren die Gleichaltrigen, meine Freunde, nie habe ich mehr gelernt als an jenen bierseligen Nachmittagen, an denen wir unsere Manuskripte durchgegangen sind. Andrés Anwandter und ich, zum Beispiel, teilen noch immer alles, was wir schreiben, das sind über zwanzig Jahre permanenter Austausch, obwohl wir schon seit der Hälfte der Zeit nicht mehr im selben Land leben. In den letzten Jahren haben mir auch Freundinnen wie Alejandra Costamagna oder Megan McDowell viel beigebracht. Es ist eine lange Liste, versteht sich, und diese Frage habe ich mir nie gestellt. Das heißt, ich mir schon, aber andere nicht mir. Ach ja: Ich hatte auch das Glück, Dichter kennenzulernen, die ich von klein auf bewundert habe, wie Gonzalo Millán oder Nicanor Parra, und aus der Zusammenarbeit mit ihnen habe ich viel gelernt, natürlich mehr über das Leben als über die Literatur. Und ich hatte Professoren, die mein Leben verändert haben, wie Soledad Bianchi, Ricardo Ferrada oder Miguel Castillo Didier, bei dem mehrere von uns studiert haben. Der Tod von Floridor Pérez hat uns besonders getroffen, weil er so ein großzügiger, aufrichtiger und amüsanter Professor gewesen ist. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was Floridor dabei empfinden würde, die Soldateska wieder auf den Straßen zu sehen. Es gibt auch Leute, denen ich nur ein paarmal begegnet bin und die wie nebenbei, ohne mir etwas beibringen zu wollen, Sätze losgelassen haben, die sich mir für immer eingeprägt haben. Ich mag diese Spezies unfreiwilliger Lehrer, denn ich bin mir sicher, dass weder Ramón Díaz Eterovic, Radomiro Spotorno oder Eugenia Echeverría je bewusst war, wie wichtig sie für mich gewesen sind.
Welche Art von Literatur und Schrifsteller langweilt dich, abgesehen von Roberto Ampuero?
Hahaha, seit Jahren schon lese ich Ampuero nicht mehr, aber tatsächlich habe ich mich früher bei ihm gelangweilt. Obwohl mir der Schriftsteller lieber ist als der Außenminister, versteht sich. Beim Schriftsteller kannst du wenigstens entscheiden, ihn nicht zu lesen … Aber seit langem schon langweile ich mich nicht mehr beim Lesen, denn ich bin wählerisch geworden, sobald ich das Interesse verliere, wechsele ich das Buch. Es gab eine Zeit, da habe ich Bücher in der Erwartung gelesen, dass sie schlecht sind, und wenn sich meine Vorurteile bestätigten, fühlte ich mich gut – was für ein Schwachkopf. Im Großen und Ganzen langweilen mich Schriftsteller, die lautstark danach zu verlangen scheinen, gelesen zu werden, und in deren Büchern immer diese ernüchternde Absicht durchkommt, dir die Creme zu verkaufen.
Fühlst du dich wohl in Mexiko, wo so viele Hassbotschaften kursieren? Was sind deine Lieblingsplätze in der Stadt?
Wenn man mich danach fragt, sage ich instinktiv ja, auch wenn ich in Wirklichkeit auf eine andere Frage antworte, denn hier ist mein Sohn auf die Welt gekommen, und ich liebe es, sein Vater zu sein, mir gefällt die Familie, die ich hier mit ihm und seiner Mama bilde. Mexiko ist äußerst komplex, hinreißend und anstrengend, wie manche Phantasien, manche Albträume. Und natürlich liefert dir das Land ständig einen Grund, zu sagen, dass hier alles schlechter ist. Ich weiß, das Vergleichen von Ländern ist eine so unvermeidbare wie trügerische Übung, denn immer forciert man die Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten, und am Ende läuft man Gefahr, gar nichts zu verstehen, an einem rein imaginären Ort zu leben und sich bei jedem Land die Nachrichten herauszupicken, je nachdem, ob man Wut möchte oder Ruhe sucht. Trotzdem vergleiche ich natürlich Tag für Tag, denn Santiago ist noch immer meine Stadt, der Vers von Kavafis, »die Stadt wird dir folgen«, ist reinste Weisheit. Ganze Tage lang habe ich das Gefühl, in Santiago zu leben, denn wenn ich aus dem einen Fenster blicke, sehe ich so etwas wie die Avenida Matta, und wenn ich aus dem anderen blicke, sehe ich eine abenteuerliche Mischung aus Ñuñoa und bestimmten Straßenzügen in Maipú. Lieblingsplätze gibt es hier natürlich mehrere, aber am liebsten gehe ich durch den Chapultepec-Park.
Das zerstörte, gärende Santiago dieser Tage lässt sich den Mexikanern schwer erklären, die schon so viele Jahre mit dem Schrecken leben. Nun gut, es lässt sich generell schwer erklären, denn es ist furchtbar, die Videos zu sehen und Knall auf Fall die Radionachrichten zu verdauen und zu spüren, dass du dort fehlst, dass du in Santiagos Straßen sein müsstest, bei deinen Freunden, und protestieren.
In Tema libre hast du Erzählungen aufgenommen, die deiner Ansicht nach missraten sind, und legst dein Innenleben offen, ohne den Schutz der Fiktion. Was hat dich dazu bewegt?
Etwas anderes auszuprobieren, die Widersprüche zu vertiefen, von neuem zu beginnen. Immer ist es diese Art Bedürfnis, das mich zum Schreiben zwingt.
An welchem Buch arbeitest du augenblicklich, und was kannst du schon davon verraten?
In den letzten Jahren habe ich an mehreren Büchern gleichzeitig geschrieben und bin gerade dabei, sie zu beenden. Im März erscheint mein Roman Chilenischer Dichter, und ich hoffe, bald zwei weitere fertigzustellen und zu veröffentlichen. Außerdem stecke ich mitten in einer langen Reportage über das Instituto Nacional, die ich vor eineinhalb Jahren begonnen habe; ich wollte vervollständigen, was ich bisher über die Schule geschrieben hatte, wollte verstehen, was damals geschah oder zu geschehen begann. Die Zeitschrift Qué pasa sollte sie veröffentlichen, aber die wurde zugemacht … Dann hat die Schule sich in einen Kampfplatz verwandelt, wie ein Vorgeschmack auf dieses Chile im Oktober, und ich habe die Reportage fortgesetzt und werde sie wahrscheinlich bald zusammen mit früheren Texten in Buchform veröffentlichen.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Zuerst erschienen in: El Desconcierto, 25.10.2019