Am 7. September 2017 erschütterte ein Erdbeben mit einer Stärke von 8,1 die Pazifikküste Mexikos. Weniger als zwei Wochen später, am 19. September, folgte ein zweites Erdbeben mit einer Stärke von 7,1. Hunderte Menschen kamen dabei ums Leben, die meisten in Mexiko-Stadt. Der chilenische Schriftsteller Alejandro Zambra lebt in der Millionenmetropole. Seine Kolumne erschien ursprünglich am 22. September 2017 in Qué Pasa, einem chilenischen Nachrichtenmagazin.
Bei dem Erdbeben 1939 in Chillán hatte meine Großmutter fast ihre ganze Familie verloren. Wir wuchsen mit der Schilderung vom Tod ihrer Mutter auf: Sie hatten sich im selben Zimmer befunden, jede am anderen Ende, und sich nicht mehr umarmen können. Großmutter, damals einundzwanzig Jahre alt, hatte stundenlang Erde geschluckt, bis ihr Bruder sie aus den Trümmern befreite. Sie überlebte wie durch ein Wunder und wurde zur fröhlichsten Person auf dem Planeten, doch wenn sie uns diese Geschichte erzählte, endete natürlich alles mit üppigen Tränen.
Großmutter war auch in Santiago beim Erdbeben 1985 bei uns. Ich spielte gerade mit meinem Cousin Rodrigo Kicker und weiß noch, dass ich in Führung lag: Meine weiße Mannschaft gewann gegen seine blaue. Großmutter packte uns am Arm und lief in den Hof. Sie hielt uns fest umklammert, dann kamen meine Mutter und meine Schwester heraus, und fünf, zehn bange Sekunden später tauchte mein Vater auf. An dem Abend dachte ich: Das ist also ein Erdbeben.
Dann folgte im September das Erdbeben in Mexiko. Wir klebten am Fernseher und sahen ein ums andere Mal die Bilder von den Zerstörungen in Mexiko-Stadt. An dem Abend fragte ich meinen Vater, ob wir hinfahren und den Opfern helfen könnten. Er lachte und erklärte mir, Mexiko sei weit weg, viele Flugstunden entfernt. Ich schämte mich. Ich war neun und hatte anscheinend noch nie auf eine Landkarte gesehen. Vielleicht hatten mich Fernsehen und Musik glauben lassen, Mexiko sei Chile so nah wie Peru oder Argentinien.
Ich springe zum Februar 2010. In der Nacht des Erdbebens war ich allein, ich lebte allein. Wie viele Chilenen dachte ich, das sei das Ende der Welt. Und dachte vor allem, dass ich niemanden hatte, den ich beschützen konnte. Am nächsten Tag suchte ich im Trümmerhaufen meiner Bücher ein Gedicht von Jorge Teillier, Ein einsamer Mann in einem einsamen Haus, und lernte es auswendig. Vielleicht wollte ich mich über mich selbst lustig machen – über mein Selbstmitleid, meine Traurigkeit –, aber das Lachen wollte nicht hinaus: »Ein einsamer Mann in einem einsamen Haus / Er hat keine Lust, das Feuer anzuzünden / Hat keine Lust, zu schlafen oder wach zu sein / Ein einsamer Mann in einem kranken Haus.«
Inzwischen steht mein Haus in Mexiko-Stadt, und ich bin weniger einsam denn je. Womöglich haben mich die beiden Erdbeben in nur zwei Wochen weniger fremd werden lassen. Beim ersten am 7. September lagen mein linkes Ohr und die rechte Hand auf dem Bauch meiner Frau Jazmina, die im siebten Monat schwanger ist. Und beim zweiten gestern, am 19. September, hatte ich gerade den ersten Absatz dieser Kolumne geschrieben. Natürlich war es nicht diese Kolumne, ich erinnere mich nicht einmal, wovon sie handelte.
Gestern sind wir umhergegangen, haben mal hier geholfen, mal da gestört, haben Textnachrichten verschickt, Mails beantwortet, telefoniert, haben also wie immer getan, was wir konnten, und das Gefühl gehabt, dass es nicht viel war, nicht genug. Aber zumindest konnten wir am Abend Frank und Jovi, zwei unserer besten Freunde, auf einem Platz in der Colonia Roma finden. »Meinem Knie geht es schon besser«, sagte Frank mit seinem sturmerprobten Optimismus, nachdem er die Krücken im Fond des Wagens verstaut hatte.
Beim ersten Erdbeben hatte Frank, frisch operiert, mit dem linken Fuß nicht auftreten können. Er war sechs Stockwerke in Unterhose und mit Krücken hinuntergestiegen, von Jovi gestützt, und sie hatten Stunden auf dem Platz vor dem Haus verbracht, bevor sie sich zur Rückkehr in ihre Wohnung entschlossen, die über und über Risse hatte, nach Ansicht der Ingenieure jedoch keine strukturellen Schäden. Beim gestrigen Erdbeben jedoch wäre das Haus beinahe eingestürzt, und sie waren kaum die sechs Stockwerke hinuntergekommen.
»Du bist Experte für Erdbeben, alle Chilenen sind Experten für Erdbeben«, sagt Frank nun. Ich antworte, mein Spezialgebiet seien chilenische Erdbeben, bei mexikanischen sei ich ein blutiger Anfänger. Und wir lächeln, als stimmte das nicht.
Vor ein paar Jahren hatten Frank und Jovi an die Wand der Wohnung, in die sie nicht mehr zurückkehren werden, einen riesigen Stadtplan von Mexiko-Stadt gehängt, zwei mal zwei Meter. Aber selbst einen riesigen Stadtplan von Mexiko-Stadt kann man ohne Lupe und einen Haufen Geduld kaum entziffern. Gerade hat es zu regnen begonnen, wir erwarten immer noch Nachbeben und sind alle sehr traurig, aber ich glaube, ich möchte hier noch viele Jahre leben: bis ich diesen Stadtplan auswendig kenne.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange.