Mit dem WM-Extrablatt begleiten wir die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien vom 12. Juni – 13. Juli 2014. Unser Team: Imran Ayata, Friedrich von Borries, Paul Brodowsky, Petra Hardt, Heinz Helle, Verena Güntner, Thomas Klupp, Katja Kullmann, Matthias Nawrat, Christoph Nußbaumeder, Albert Ostermaier, Thomas Pletzinger, Doron Rabinovici, Lutz Seiler, Stephan Thome, Stefanie de Velasco.
Ich habe mir Rückenschmerzen zu meinem 50. Geburtstag gewünscht. Keinen dieser unnützen Morgen, an denen man ohne ein stechendes Ziehen in den Halswirbeln aufwacht, ohne das Kopfballpendel in den Schläfen, ohne die Dünen der Taubheit, die durch die Wüsten des Körpers wandern. Ich wollte mich erinnern, wie es weh tat nach dem Fußballspielen am Strand, wenn ich auf die Steine unter dem Sand krachte, wenn ich mich nach dem Ball streckte, wenn ich mir die Sohlen aufschnitt von den Scherben der Bierflaschen oder mit den Zehen in der Augenhöhle eines Verscharrten stecken blieb und den Schädel wie einen zweiten Ball ins Spielfeld schleuderte. Sie hatten an alles gedacht, hier auf den Hochhäusern. Die im Wind flatternden Leinwände zeigten das Meer, Wellen, die auf uns zu brandeten und die Schreie aus den Armutsvierteln tief in den Schluchten unter uns übersangen. Es war alles täuschend echt, der Sand, die Sonnen, selbst an den Sonnenbrand auf unserer Haut hatten sie gedacht. Man konnte ihn sich abends abziehen wie die Tattoos, die Totenköpfe und Schlagen die aus dem Herzen den Hals hinauf unters Kinn krochen, die Flügel auf den Schulterblättern in dem Blau des Himmels, der dieses Jahr an einen Transplantationstycoon verkauft wurde, dessen Logo als Wasserzeichen in den Wolken hing. Einen Tropfen Wasser hätte ich mir auch gewünscht, echtes Wasser, auf der Zungenspitze, auf deiner Zungenspitze, einen Tropfen, den wir zwischen unseren küssenden Mündern verbergen vor der Welt, den du schluckst wie die Liebe und der als Träne wiederkehrt, die ich auffange mit einer Wimper, die auf meine Wange fällt, von der du sie auf deinen Finger nimmst und mir einen Wunsch schenkst, an den ich nicht denken will, da sie in mir sofort erfüllt werden oder mich hinabstürzen lassen in den Energieschacht, in den wir fallen, wenn wir etwas denken, das nach immateriellen Wünschen klingt. Wie aufregend war es, sich nach dem Fußball zu lieben, wenn die Erschöpfung aus der Haut fuhr, wenn die Hitze der Gelenke wie ein Lauffeuer durch die Glieder lief und jeder Kuss seine zweite Luft fand, jeder Traum seinen Pass von deinem Herzschlag zu meinem, wenn wir uns ineinander verschoben, die Räume eng machten und uns mit überfallartigen Kontern überraschten. Wenn dann am nächsten Morgen der Rücken schmerzte und die Liebe schmerzte, weil ich allein war und sie dich aus meinem Gedächtnis gelöscht hatten, deine Lippen, deinen Mund an meinem Ohr, deine Brüste in den Innenflächen meiner Hand, die noch nach dem Ball rochen, dem Strand. Ich durfte mir meine Erinnerung gefiltert zurückkaufen, mit einem Sponsor auf deinem Rücken und Silikonimplantaten in deinen Lippenbögen und unter deinen im Goldenen Schnitt angespitzten Brustwarzen. Sie sagten, es wäre alles für einen guten Zweck, dafür bekämen die Armen neue Gesichter, würde ihnen der Hunger, würden ihnen die Ängste und Sorgen weggeschnitten und dann zu einem glücklichen Lächeln abgerundet. Sei es nicht ein Wunder, dass wir überall nur glückliche Gesichter sähen, selbst in den Augen der Ärmsten, wenn wir sie aus den Augenwinkeln oder in den Stadien mit den Blatterfahnen sahen, nachdem er für unsterblich erklärt und seine quatarisierte Mumie jedes Jahr wiedergewählt wurde? Sie dachten nach dem dreißigjährigen Krieg zwischen Google, Amazon und Facebook, sie hätten alles im Griff, im Datenzugriff. Aber meine Sehnsucht ließ sich nicht scannen, nicht digitalisieren, und nicht die Liebe zu dem alten Lederball, als die FIFA Leder verbot und Google uns die Haut abzog und Facebook sie versiegelte. Sie machen Fehler, mein zweiter 50. kommt drei Jahre zu früh und mein Rücken schmerzt tatsächlich. Ich nehme mir die Tischplatte, nehme Schwung und dann werde ich die Leinwand durchbrechen und da draußen im Himmel die große Welle surfen und alle werden sehen, dass wir, wenn wir an uns, die Liebe und den Fußball glauben, die Welt ohne sie meistern können!