Eva Behrendt Bereits im November hätte die Uraufführung von Mutter Vater Land in Bremen stattfinden sollen; die Premiere musste auf zunächst unbestimmte Zeit verschoben werden. Halten Sie es so lange noch aus?
Akın Şipal Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Außerdem konnte ich mir die Generalprobe ansehen, ich weiß also in etwa, was daraus geworden ist.
EB Wie war es denn?
AŞ Das ist, wenn es das eigene Stück betrifft, immer schwer zu sagen. Gerade beim ersten Ansehen bin ich meist so stark mit meinem Text und letztlich auch mir selbst beschäftigt, dass ich alles andere kaum wahrnehme; ich kann aber sagen, dass Frank Abt und das Team sehr zart und verantwortungsvoll mit dem Stück umgegangen sind.
EB Hängt das in dem Fall auch damit zusammen, dass es sich um einen sehr persönlichen Stoff handelt? Immerhin hat Ihre Familiengeschichte dafür Pate gestanden, Sie selbst werden von der Figur Alter Ego repräsentiert.
AŞ Klar, das kann auch daran liegen. Aber Mutter Vater Land lag auch immer der Gedanke zugrunde, dass ich mit diesem persönlichen Stoff spielen will, indem ich ihn überhöhe und fiktionalisiere. Ich habe Film studiert, mich lange intensiv mit Dokumentarfilm beschäftigt und weiß, wie relativ das Reale auch im Dokumentarischen ist. Mich interessiert vor allem, wie sich Dokumentarisches, Fiktion und Autofiktion zueinander verhalten. Auch bei Mutter Vater Land spielt das eine große Rolle, geraten diese Begriffe in ihrer scheinbar klaren Abgrenzung zueinander ins Wanken.
EB Mutter Vater Land ist, filmisch gesprochen, ein Stück der wilden Schnitte. Die Szenen springen zeitlich vor und zurück zwischen vier Generationen einer Familie, räumlich zwischen Istanbul und Wanne-Eickel. Macht sich da ihre Filmerfahrung bemerkbar?
AŞ Ich habe tatsächlich versucht, das Stück zwischen den schon erwähnten Begriffen hin- und herspringen zu lassen: Es gibt eine dokumentarische Ebene der Schriftstücke – wobei auch da nicht klar ist, ob diese Schriftstücke real sind –
EB – im Text findet sich beispielsweise ein Schreiben der deutschen Botschaft in Istanbul.
AŞ Und dann gibt es die autofiktionale Ebene, in der ich meine Familiengeschichte erzähle und teilweise auch erfinde und in der ich mich spielerisch auf die künstlerische Praxis in meiner Familie beziehe. Mein Großvater Kamuran Sipal, der in den 1950er Jahren bei dem NS-verstrickten Germanisten Gerhard Fricke in Istanbul studiert hat, war Übersetzer und Schriftsteller, der selbst autobiografische Prosa geschrieben und auch an diesem Thema geforscht hat. Für mich war es immer ganz selbstverständlich, dass es da diese Romane gab, in denen mein Großvater sich auf unsere Familiengeschichte bezogen hat. Auf dieser Ebene erfinde ich mich gewissermaßen in einer Kontinuität stehend mit meinem Großvater.
EB Ihr realer Großvater hat vor allem deutschsprachige Autoren – darunter Brecht, Freud, Thomas Mann und vor allem fast das gesamte Werk Kafkas – ins Türkische übersetzt und eine deutsche Frau geheiratet.
AŞ Ja, über allem steht die Idee, einen türkisch-deutschen Bildungsroman in Form eines Stückes zu schreiben, in dem sich verschiedene Aspekte der türkisch-deutschen Beziehungsgeschichte verdichten, die bekannten und weniger bekannten, eben am Beispiel einer über beide Länder verteilt lebenden Künstler*innenfamilie. Durch meinen Großvater weiß ich, wie viele türkische Literaten es gibt und gab, die sich mit deutscher Literatur auseinandergesetzt haben und ihr Leben auf der Schwelle zwischen den Sprachen und Kulturen verbracht haben. Leider bleibt das Schaffen von Übersetzer*innen meist verborgen. So ist nach dem Tod meines Großvaters kein Nachruf auf Deutsch erschienen, noch nicht mal das Goethe-Institut in Istanbul hat kondoliert. Da wurde mir klar, wenn ich das nicht erzähle, erzählt es niemand.
EB Ihr Großvater ist letztes Jahr im Alter von 93 Jahren gestorben. Gibt es so etwas wie einen unausgesprochenen Auftrag, sein Werk zu bewahren?
AŞ Zumindest fühle ich mich dafür verantwortlich. Es gibt eine so gut wie unbekannte hybride türkisch-deutsche Intellektualität, die ihre Wurzel im Wirken mehrheitlich jüdisch-deutscher Akademiker*innen an türkischen Hochschulen hat. Dieses Zusammentreffen vor 70, 80 Jahren hat Früchte getragen. Behcet Necatigil, ein enger Freund meines Großvaters, den Kindlers Literaturlexikon immerhin als wichtigen Vertreter der türkischen Moderne aufführt, ist so gut wie nicht übersetzt. Dabei besteht sein Werk in einer irren Synthese. Da werden quasi Raum und Zeit gestaucht: extrem verdichtete Alltagsbeschreibungen aus der brandneuen Republik werden formal an die Diwan-Literatur angelehnt, also die traditionelle islamisch-höfische Dichtung. Necatigil hat auch aus dem Deutschen ins Türkische übersetzt und hat sich, wie mein Großvater, durch die deutsche Literatur gelesen, die haben alles gelesen, was sie kriegen konnten und sich gegenseitig mit Büchern versorgt, wenn einer von ihnen in Deutschland war. Das war in den 50er Jahren. Wir brauchen diese Erzählungen, denn die türkisch-deutsche Beziehungsgeschichte ist vielschichtig und multidimensional. Im Idealfall bildet das Stück genau das ab.
EB Hat Ihr Großvater noch erfahren, dass Sie ein Stück über ihn und ihre Familiengeschichte schreiben? Gegen Ende des Stücks gibt es eine Szene, in der ihre beiden Großeltern sich für ihr manchmal kaltes und ruppiges Verhalten gerade ihrem Vater gegenüber mit ihren eigenen schlimmen Kindheiten rechtfertigen und Sie des Verrats bezichtigen …
AŞ Ja, er wusste davon. Er selbst hat übrigens viel über seine Kindheit in Adana und seine Mutter geschrieben, und über das Leben in Istanbul in den frühen republikanischen Jahren, aber auch darüber, wie es war, als junger Doktorand aus Istanbul im Münster der 50er Jahre zu leben.
EB Einer der stärksten Eindrücke des Stückes ist, dass es doch einige Parallelen und Überschneidungen zwischen deutscher und türkischer Geschichte gibt. Angefangen damit, wie Sie es auch einmal in «Mutter Vater Land» schreiben, dass Atatürk Hitler als Vorbild diente, bis hin zu der Härte, in der noch die Nachkriegsgeneration(en) aufgewachsen sind.
AŞ In Deutschland gibt es ja die stark vereinfachte Vorstellung, dass die republikanisch orientierten Türken die Guten und die islamischen Orthodoxen die Hinterwäldler sind, also diejenigen, die die Entwicklung hemmen. Dabei vergisst man, dass die Nationalisierung des Osmanischen Reiches ein Projekt der proeuropäischen Eliten war, aus dem schon im Vorfeld der Republikgründung zahllose Gräuel erwuchsen, wie etwa der Genozid an den Armeniern. Aber die Türkei leidet heute noch darunter, dass sie diesen relativen Frieden der Ethnien und Religionen, der im Zuge des Niedergangs natürlich schon brüchig geworden war, vollends zertrümmert hat zugunsten eines homogenen Staates. Und in Deutschland heißt es heute noch manchmal, diesen Frieden habe es nie wirklich gegeben, aber im Vergleich dazu, wie sich das Zusammenleben beispielsweise zwischen Juden und Christen in Europa gestaltete, war es im Osmanischen Reich zweifellos friedlicher und besser moderiert.
EB Wie kam das?
AŞ Vielleicht lag es an den pragmatischeren Herrschern, vielleicht ist die Ambiguitätstoleranz im Islam größer – jedenfalls wurde diese Art des Zusammenlebens einem krassen Nationalismus geopfert, und darunter leidet die heutige Türkei. Die Übernahme von noch mehr «europäischen» Ideen ist dabei nicht unbedingt die Lösung – zumindest hängt es davon ab, was für einen Europa-Begriff man hat. Denn man sollte nicht vergessen, dass Moskau und Istanbul die beiden größten Städte Europas sind, der europäische Teil Istanbuls ist die zweitgrößte europäische Stadt. In der Türkei leben mehr proeuropäische liberale Demokrat*innen als in Österreich und der Schweiz zusammen. Man sollte auch nicht vergessen, dass der Islam auf dem Balkan, im einstigen Thrakien, das intellektuelle Zentrum des Osmanischen Reiches und 700 Jahre lang Teil von Europa war. Viele islamisch-osmanische Ideen sind im Kern auch europäische Ideen, und es ist eher fatal, sie als das Andere auszuklammern.
EB Im Stück führt das dazu, dass Ihr Alter Ego in einer langweiligen Schulstunde im Ruhrgebiet den Angriff der Tartaren imaginiert …
AŞ Genau, das ist ein Bild, das in der europäischen Kunst und Literatur immer wieder auftaucht und ausgeschlachtet wird. Auch in Tarkowskis Andrej Rubljow, der sehr sinnlich und brutal die russische Staatsgründung schildert, symbolisiert der Einfall der Tartaren die Rivalität zwischen Ost und West – aber es ist eben auch ein Angstbild, eine Verzerrung. Das entspricht dem Bild, das sich viele in Deutschland von den »Türken« machen: Man sieht in ihnen das Gegenteil von dem, was man sein will. Das war meine überspitzt formulierte These für das Stück, weil ich diese hochproblematische Beziehung auch nicht schönreden wollte. Und weil mich der Mechanismus interessiert, der diesem Missverständnis zugrunde liegt: Man braucht immer Gegenbegriffe für das Eigene, ob das nun heute die Türken sind oder der Islam oder ob es früher die Tartaren oder Hunnen waren. Das sieht man ja gerade auch in der Netflix-Serie «Barbaren»: Dort werden die Germanen mit dem Sammelbegriff Barbaren belegt, obwohl sie sich gar nicht als Gemeinschaft definieren. Genauso ergeht es einem, überspitzt formuliert, wenn man als »Türke« nach Deutschland kommt.
EB Sehr eindrucksvoll ist auch, wie oft Ihr Alter Ego das vergiftete Kompliment zu hören bekommt, er spreche sehr gut Deutsch.
AŞ Ja, das ist fast schon traurig, ein Klischee auch. Aber vor dem Hintergrund der Familiengeschichte hat es ja noch eine absurde, schräge Dimension, es wirkt vollkommen irreal, weil deutlich wird: Die vermeintlich positive Überraschung über die Anpassungsfähigkeit des anderen wird sozusagen unaufhörlich weiterprojiziert.
EB Sowohl Ihr Großvater als auch die Familie Ihrer Mutter gehören zum türkischen Bürgertum, richtig?
AŞ Es gibt im Stück die Figur des Ururgroßvaters, der zur religiösen Elite gehörte und als Theologe und Mystiker den Sultan beraten hat. Die ist angelehnt an meinen realen Ururgroßvater, der tatsächlich durch den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches alle Privilegien verloren und sich in der Provinz wiedergefunden hat. Dann gibt es das tragische Bild seiner Tochter, die vor hundert Jahren als Mädchen an einem Elitegymnasium in Istanbul unterrichtet worden war und sich nach dem Zusammenbruch ebenfalls in der Provinz wiederfand. Wo ihre Tochter, meine Oma mütterlicherseits, dann erstmal nicht lesen und schreiben lernen konnte, weil das in den Umbruchsjahren nicht vorgesehen war. Das Ende des Osmanischen Reiches bedeutete auch das Ende der Privilegien für eine bestimmte soziale Schicht, für die damalige intellektuelle Elite. Dieser Verlust hat auch die nachfolgenden Generationen noch stark geprägt.
EB Was sich auch auf der Seite der schlesischen Großmutter widerspiegelt, die mit ihrer Tochter Breslau verlassen musste und die im Ruhrgebiet erstmal als »Polacken« ausgegrenzt wurden. Aber nochmal zurück zur Familie mütterlicherseits. Warum ist Ihre Mutter nach Deutschland gekommen?
AŞ Das war fast eine Art Eskapismus. Einen Teil der Familiengeschichte konnte ich gar nicht aufnehmen in das Stück, das hätte den Rahmen einfach gesprengt: Mein Großvater mütterlicherseits ist nämlich das Kind eines früh verstorbenen Großindustriellen und seiner Hausangestellten –
EB – das klingt in der Tat nach Stoff für ein weiteres Stück –
AŞ –, der als jüngster Nachkomme nichts vom Reichtum seines Vaters geerbt hat. Der war immer auf der Suche nach Anschluss, nach seinem Zuhause, das es nie gegeben hat, und musste sehr früh schon seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Er kam aber gut zurecht in Istanbul und hätte nicht nach Deutschland gehen müssen; er war eher ein typischer Fall von Abenteuergastarbeiter. Davon gab es einige, die Gastarbeiter waren keine so homogene Gruppe, wie man sich das üblicherweise vorstellt.
EB Haben sich Ihre Eltern entsprechend anders als die anderen Gastarbeiter gefühlt? War das ein Sonderstatus, sozusagen bourgeois unter Arbeitern?
AŞ Nein, also meine Mutter ist per Definition Gastarbeitertochter und mein Vater ist eben kein Gastarbeiterkind, sondern das, was man in den 50ern und 60ern gern als »Mischling« bezeichnet hat. Aber ich finde, man sollte die Gastarbeitererzählung um den Rest der türkisch-deutschen Beziehungsgeschichte erweitern und sie nicht hermetisch betrachten. In der modernen Türkei gab es außerdem gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jede Menge Migrationsbewegung, verbunden mit Erfahrungen von Abstieg, Flucht und Entwurzelung. Die Selbstbeschreibung vieler Gastarbeiter*innen der ersten und zweiten Generation als «einfache Leute» klammert ihre bewegte und alles andere als einfache Geschichte aus. Diese Erfahrungen wurden aber verdrängt und nicht in die Selbsterzählung der Türken der 1960er, 70er Jahre integriert. Und so ist auch das zusammengebrochene Osmanische Reich lange Zeit keine kulturelle Referenz mehr gewesen, obwohl es jede Menge Kunst und Kultur gab, auf die man sich viel stärker positiv hätte beziehen können.
EB War es Atatürk, der auch diesen Faden durchgeschnitten hat?
AŞ Atatürk steht am Ende eines über 100 Jahre währenden Versuchs osmanischer Eliten, das Osmanische Reich zu konsolidieren, treibende Kraft sind dabei an europäischen Militärhochschulen ausgebildete Offiziere. Die importieren den Nationalismus, sie wollen eine Säkularisierung nach französischem Vorbild. Die ersten Universitäten nach europäischem Vorbild waren Militärhochschulen. Von dort stammt der Geist der Republikgründer. Und man muss auch bedenken, dass sie das Land rasend schnell modernisieren wollten aus Angst vor einer drohenden Kolonisierung. Damit wurden zahlreiche Gräueltaten entschuldigt, und diese Lesart der Geschichte gilt auch bis heute in der Türkei.
EB Bis zu einem gewissen Grad würde das aber den Rassismus vieler Deutscher gegenüber «den Türken» entschuldigen – weil sie ja gar nicht anders können, als diese als »einfache Leute« wahrzunehmen.
AŞ Ich würde sagen, die Selbstbeschreibung als »einfache Leute«, das stereotype, angstbesetzte bzw. von Exotismus geprägte deutsche Türkeibild sowie reelle kulturelle Unterschiede haben sich damals unglücklich verstärkt. Wer sich als »einfach« beschreibt, was auch immer man darunter verstehen mag, muss ja nicht zwingend als »einfach« wahrgenommen werden. Aber die Vermittlung der kulturellen Ressourcen der Türkei ist tatsächlich ein wenig gestört. Es gibt eine schwer zu überschreitende Schwelle. Die muss man bearbeiten und glätten, damit es besser drüber flutscht. Die Türkei ist zum Beispiel ein großartiges Literaturland …
EB … die Szene, in der sich Ihr Großvater über den Nobelpreis für Orhan Pamuk ärgert, ist auch deswegen kurios, weil er der einzige türkische Autor weit und breit ist, der in Deutschland, auch auf dem Theater, intensiv rezipiert worden ist.
AŞ Da spielt natürlich auch Neid eine Rolle. Pamuk ist schon ein super Autor, vor allem wenn es um verschachtelte Plotkonstruktionen geht. Aber was die konkrete Arbeit mit der Sprache angeht, ist er eher konventionell und oberflächlich (und deshalb auch leicht zu übersetzen). Aber das sind Diskurse, die hier kaum bekannt sind. Umgekehrt hat übrigens mein Großvater schon in den 1960er Jahren Theater heute wegen des Stückabdrucks gekauft.
EB Obwohl er in Ihrem Stück nicht wirklich sympathisch rüberkommt: Wie schade, dass er diese Ausgabe nicht mehr lesen kann.
AŞ Ja, sein Werk hat einige Kollateralschäden angerichtet. Den Preis musste mein Vater bezahlen. Mutter Vater Land ist eben auch ein Stück über die Frage nach der Vereinbarkeit von künstlerischer Praxis und Familie.
Das Interview erschien zuerst in Theater heute (Ausgabe 12/20). Wir danken für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung im Suhrkamp Logbuch.