Als 1991 Harold Brodkeys Die flüchtige Seele (The Runaway Soul) erscheint, sind die Menschen enttäuscht. 1300 Seiten, die sich nicht lesen lassen wollen. Es gibt keine Geschichte, und wenn, dann gut versteckt unter seitenlangen Beobachtungskaskaden von eigentlich allem, was der Hauptfigur begegnet, die noch dazu mit dem Autor übereinzustimmen scheint. Es geht in dem Roman Die flüchtige Seele um das Leben des Autors Harold Brodkey, seine Adoptiv-Kindheit, seine Studienjahre in Harvard und seine beginnende Arbeit an einem schriftstellerischen Werk.
In den 80ern scheint es, Brodkey, der Schriftsteller, sei an den Vorschusslorbeeren erstickt, mit denen er zeitweise geradezu überhäuft wurde: Er gilt der US-amerikanischen Öffentlichkeit als größter Romancier, der noch keinen Roman veröffentlich hat. Geduld und Erwartung schlagen in Spott um, als er das ausstehende Meisterwerk nicht herausrücken will oder kann, bis dann, nach 30 Jahren Arbeit (Brodkey ist inzwischen 61 Jahre alt) und angeblich mehr als zehntausend Manuskriptseiten später, endlich der Roman erscheint; ein Roman, der auf den ersten Blick mehr Gemeinsamkeiten mit einer Wand zu haben scheint als mit einer Erzählung.
Die flüchtige Seele hat sich einen Ruf gemacht als gescheiterter Roman. Selbst gut gemeinte Rezensionen, wie die von Paul Ingendaay, beschreiben den Roman als »prachtvoll illuminierte Ruine«. Ein Roman steht bei seinem Erscheinen im Kontext zu den Erwartungen, die an ihn gerichtet sind, klar. Die Erwartungen an Brodkey schienen jedoch außerirdische Ausmaße angenommen zu haben, und dass dieser sich dann auch noch diesem Druck auszuliefern bereit war und 30 Jahre lang immer wieder beteuert haben muss, dass das Romanprojekt noch nicht begraben, aber auch noch nicht fertiggestellt sei, einfach noch ein bisschen mehr Arbeit erfordert, ist traurig und faszinierend zugleich. Brodkey ist es nicht gelungen, die Erwartungen zu erfüllen. Meiner sporadischen Recherche zufolge soll er keinen unwesentlichen Anteil daran gehabt haben, die Erwartungen ins scheinbar Unermessliche, Unerfüllbare steigen zu lassen, raketenartig sich von jeder Machbarkeit entfernend. Amerikanische Schriftstellerkollegen spotten seit seinem Tod im Jahr 1996 öffentlich über den falschen Hasen, das Genie, das doch keins war. Irgendwie verständlich, hat er sie doch zeit seines Lebens allesamt als literarische Nullen bezeichnet. Vielleicht hat er ein bisschen viel Party gemacht im New York der 60er, 70er, 80er, zu viele Leute kennengelernt, bei denen er sich mit seiner Art unbeliebt gemacht hat.
Aus einem ZEIT-Interview mit Philip Roth
Philip Roth: Es war nicht einfach mit Brodkey. Ich habe ihn vor vielen, vielen Jahren kennengelernt, ich glaube, in Italien. Er hat mir immer erklärt, dass er besser schreibe als ich.
ZEIT: Das hat er jedem gesagt.
Roth: Stimmt. Ich erinnere mich daran, dass ich ihn einmal in New York auf der Straße getroffen habe und dass er zu mir sagte: »Lass uns einen Kaffee zusammen trinken.« Dann haben wir uns in ein Café gesetzt, und er erklärte mir wieder, warum er ein besserer Schriftsteller sei. Unser Thema war also klar: Ich bin ihm unterlegen. Wie konnte ich ihn lieben? Er war ein seltsamer Typ.
Rund 25 Jahre nach ihrem Erscheinen kann man Die flüchtige Seele aber ohne diese Hintergrundgeschichte lesen; man muss sie sich sogar zusammenrecherchieren, wenn man, wie ich, im Erscheinungsjahr des Romans geboren wurde und dementsprechend keine erinnerbare Vorstellung vom Jahr 1991 hat und schon gar nicht vom damaligen Literaturbetrieb. Ich habe das Buch als Teenager als Mängelexemplar aufgegabelt und gekauft, nachdem ich a) gefunden hatte, 5 Euro für 1300 Seiten seien ein gutes Preisleistungsverhältnis, und b) einfach interessiert war zu erfahren, was für eine irre Geschichte das sein muss, die über 1300 Seiten sich einer Narration verpflichtet, somit vermutlich irgendeiner Form von Spannung.
Ich verbuchte Die flüchtige Seele angesichts seiner Unlesbarkeit zuerst ein wenig ungläubig als Fehlkauf. Mit der Zeit konnte ich mich dann begeistern für das völlig andersartige Leseverhalten, das das Buch einem abverlangt. Der Roman steht immer noch bei mir rum, und auch wenn ich ihn durchgelesen habe, ist er wahrscheinlich gar nicht auszulesen.
Für ein und dieselbe Sache findet Brodkey gefühlte Millionen Wörter und Sätze, mit denen er eine Million verschiedener Gefühlszustände beschreibt (im Roman vor allem Gefühle zwischen ihm und seiner Stiefschwester), das allein macht den Roman lesenswert. Man könnte ihm das auch vorwerfen, dass eine Million Gefühle einfach zu viel sind für einen sterblichen Leser, der bestimmt nicht sein ganzes Leben mit einem Buch in der Hand rumrennen möchte. Dafür ist Die flüchtige Seele viel zu sehr nach bestem Gewissen gearbeitet, es steckt voller superdiffiziler und hyperdifferenzierter geistig-emotionaler Mikrokosmen, in die man, mit ein wenig Vorarbeit, immer wieder einfach so einsteigen kann, auch ohne die Blöcke davor gelesen zu haben, wenn man die Konstellation an Charakteren denn kennt (und die kennt man schon, wenn man die wenigen Kurzgeschichten liest, die er zum gleichen Thema, seiner »Familie«, geschrieben hat und die im Übrigen auch sehr viel zugänglicher sind).
Die flüchtige Seele ist intensiv und gewaltig und manchmal so verschlossen und verschachtelt-schlecht erzählt, was das nicht vorhandene Wechselspiel äußerer und innerer Handlung angeht, dass man entweder verwirrt oder gelangweilt oder aber auch wirklich gerührt sein kann. Und Letzteres ist doch irgendwie ein Punkt: Brodkey war kein literarischer Teppichknüpfer, er hat kein Kunsthandwerk betrieben, er war ein Künstler, der es schaffte, eine ungeheure emotionale Dichte zu kreieren, ohne ein einziges Mal sentimental zu sein, ohne sich für literarische Jahreszeiten zu interessieren. Er bildet emotionale Tiefe im Bezug auf Zeiterleben ab: die naturgewaltigen Kräfte zwischenmenschlicher Beziehungen und mehr oder weniger familiärer Bindungen (Adoption usw.), wie gegenwärtig sie sind in unserem Geist, wie sehr sie uns überschatten und wie sie unsere Wahrnehmung von Zeit und Raum prägen.
Dass menschliches Handeln und Erleben bzw. Verstehen zeitgleich ablaufen, macht vieles so kompliziert zwischen Menschen und im einzelnen Menschen selbst. Eine Erzählung im klassischen Sinne gaukelt einem Leser eine Balance zwischen Handeln und Erleben bzw. Verstehen vor, stilisierte Linearität oder Kausalität also. Auf dies folgt jenes, meist logischer- und konsequenterweise, wogegen nichts einzuwenden ist. Bei Brodkey aber ist es eher ein stilisiertes Zweifeln an der eben aufgestellten Behauptung, das den Kern seiner Arbeit ausmacht. Jede Beobachtung wird mit jedem vorhandenen Gedanken abgeglichen, auf verschiedensten gedanklichen Oberflächen gespiegelt, so entsteht der Eindruck eines psychsozialen Think Tanks. Selten bildet eine literarische Erzählung Zeit, die Wahrnehmung von Zeit, die Verarbeitung von Erlebtem, parallel dazu dessen Deutung und Interpretation, so präzise ab wie bei Brodkey; aber auch so zermürbend, labyrinthisch und verzweigt, wie Menschen eben wahrnehmen und empfinden.
Brodkey erzählt ein und dieselbe Figur (z.B. seine Adoptivmutter) etliche Male, in verschiedenen Situationen, die nicht mal richtige Situationen sind, weil sie, sich über viele Seiten erstreckend, das Situative verlieren. Die im Roman beschriebenen Personen verhalten sich je nach Ort und Zeit immer anders, manchmal scheinen sie nur noch von ihren Namen und von ihren Beziehungen zum Hauptcharakter zusammengehalten zu werden. Die Beobachtung und Beschreibung einer Figur geschieht immer wieder aufs Neue. Da sie in ihren Relationen zum Hauptcharakter aber verwandt sind, kommt nie das Gefühl von Unzuverlässigkeit auf. Dem Erzähler liegt viel daran, dem Leser nichts vorzuenthalten. Es scheint Brodkey eben um dieses Spürbarmachen der Ungenauigkeiten unserer Beobachtungen zu gehen, ihrer Veränderlichkeit im Angesicht ihrer Prozesshaftigkeit. Das Ganze ist eine Art Rashomon hoch zehn, auf Innerlichkeit beruhend und nicht auf allgemein erfahrbaren Situationen. Realität konstituiert sich durch einen Beobachter, und Wind und Wetter haben eben einen Einfluss auf den Beobachter. Es ist, als schüttele die Figur des Romans den Baum der Erkenntnis, der eben kein Baum ist, sondern eine Straßenlaterne in einem US-amerikanischen Vorort.
Brodkey windet sich in seinen Beobachtungen, wiederholt Erinnerungen, um zu testen, wie genau sie reproduzierbar sind, seziert Momente mit chirurgischem Ehrgeiz, ist ums erzählerische Verderben bemüht, etwas zu sehen in allem Unglück, das ihn umgibt. Er reflektiert und bespricht alles, im Zwiegespräch mit dem Leser, indessen bemerkt er die Lückenhaftigkeit seiner Beschreibungen, er bemängelt, mit allem, was er erzählt, seine Sprache als unzureichendes Handwerkszeug zum Erfassen seiner Umwelt, zur Klärung seines Selbstverständnisses: Identität ist work in progress, und Brodkey macht es literarisch erfahrbar.
Brodkeys Roman ist keine Rakete und auch keine Granate, der Roman ist ein U-Boot, mit dem man richtig tief tauchen kann, und unten ist es nun einmal dunkel, aber das wussten wir ja schon vorher, trotzdem kein Argument, nicht runterzutauchen, oder?
Brodkey hat sich in seiner Erzählung nicht den Idealmaßen eines Romans verpflichtet gefühlt, sondern der Genauigkeit der Darstellung der Ungenauigkeit der Sprache bzw. der Gedanken. Dass es sich hier um ein astreines Paradoxon handelt, heißt ja nicht, das es sich nicht lohnen würde es abzubilden. Da die einzige wirkliche Linearität im Buch in Seitenzahlen besteht, muss man Die flüchtige Seele, um sie genießen zu können, als einen Atlas menschlicher Regungen lesen, als Index für Gefühlssorten, als eine Abfolge der Landkarte der Identitäten mit zahlreichen Subkarten, die mit verschiedensten Legenden arbeiten, auch wenn der Altas kein Inhaltsverzeichnis hat und nicht besonders gut sortiert ist.
In der Kategorie Roman ist Brodkeys Die flüchtige Seele vielleicht gescheitert, in der Kategorie Scheitern aber hat Brodkey zweifellos einen Sieg davongetragen. Wer so gewissenhaft scheitert, im Angesicht gewetzter Messer sich entschließt, 30 Jahre Anlauf zu nehmen und dann auch in diese Messer zu laufen, mit einem Buch, das einzigartig ist in seiner Art, zu erzählen oder auch nicht zu erzählen, das mit seinen obssesiven Interaktions-Close-Ups und seiner sozialen Slow Motion sehr besonders ist, hat zumindest verdient, dass mal wieder hineingelesen wird.
Die flüchtige Seele von Harold Brodkey ist 1995 in der Übersetzung von Angela Praesent bei Rowohlt erschienen.