Vorab sei auf einen wunderbaren Zeitungsartikel von Michael Horeni hingewiesen, erschienen in der FAZ vom 16.06.2016. Treffender kann man das Missverhältnis zwischen den Leistungen des Nationalmannschaftsspielers Mesut Özil und ihrer öffentlichen Wahrnehmung kaum beschreiben.
Wieso begegnen wir unserem talentiertesten Fußballer mit so viel Unverständnis? Das geht so weit, dass Mehmet Scholl und Matthias Opdenhövel während der Vorberichterstattung zur Begegnung Portugal-Österreich aus heiterem Himmel eine Szene Özils aus der Partie Deutschland-Polen präsentierten, in der Scholl glaubte, ihm unter Einsatz geballter Pseudoexpertise mangelhaftes Gegenpressing nachweisen zu können. Damit umkreisten die beiden Spaßvögel nicht einmal den Kern der Ursachen für das unglückliche Offensivspiel der Nationalmannschaft gegen Polen. Traut man der deutschen Öffentlichkeit nicht zu, sich mit einer fundierten Erklärung für das 0:0 zufriedenzugeben? Das Problem unkoordinierter Laufwege ist zu komplex, als dass man dafür einen einzelnen Akteur ans Kreuz nageln könnte. Dennoch wird reflexartig Özil herausgepickt, man haut ein paarmal drauf, bis sich die Gemüter beruhigen, und die Sache ist vergessen. Das gehört zum sportjournalistischen Repertoire in Deutschland. Wie gewohnt nehmen die Boulevardmedien die Kritik der großen Fische an Özil gerne auf und blasen sie zu gefühlt fünfseitigen Artikeln auf. Auch Scholls Sätze fanden umgehend ein Echo im Boulevard. Die BILD postete einen Artikel, dessen sportjournalistischer Gehalt gen null geht. Im Fall Özil scheint die Verwertungskette unendlich. Warum?
Es mag daran liegen, dass Artikel über Özil unzählige Abnehmer finden. Solche, die sich im Allgemeinen für Fußball interessieren, seine Fangemeinde im Internet (40 Millionen), türkischstämmige Deutsche, überhaupt Deutsche muslimischen Glaubens, denen er als Identifikationsfigur dient, und eben jene, die sich nicht so recht damit anfreunden können, dass ein türkischstämmiger Deutscher international ein größeres Renommee besitzt als mancher mit einem deutsch klingenden Namen. Kurzum, es lohnt sich in jeder Hinsicht, von Özil zu sprechen. Die tautologischen Merkmale der Özil-Berichterstattung lassen jedoch auf eine echte Obsession schließen. Auch Scholl bediente an besagtem Abend das Mantra der hängenden Schultern, das so aussagekräftig ist wie ein Stück Brot. Die Körperhaltung, skandieren die Kritiker, die Körperhaltung … Ja, was denn? Muss sich selbst ein Fußballer, der das Spiel beherrscht, so benehmen wie ein Held aus der Ilias? Sind das etwa unsere Erwartungen an die Kicker im DFB-Dress?
Die hängenden Schultern Özils sind zu einer rhetorischen Figur geworden, von der man nur hoffen kann, dass sie nicht auch noch in anderen Bereichen als im Fußball angewandt wird. Die tendenziöse Berichterstattung über Özil legt eine Schlussfolgerung nahe: An schönem Fußball, der ohne martialische Zwischentöne auskommt, sind die Zuschauer nicht interessiert. Muss sich ein Spieler ernsthaft verletzen, um geliebt zu werden? Wie der Kapitän zum Beispiel: Als im Finale von Rio Blut floss, waren wir zu Tränen gerührt. Als gehöre zu jedem Übersteiger mindestens ein gefällter Baum. Es geht auch nicht etwa nur um fußballerischen Erfolg, sondern vor allem um dessen Dramaturgie: Der Erfolg allein ist alles andere als zufriedenstellend, er wird erst anerkannt, wenn man auch Anteil nehmen kann, und diese Anteilnahme kann nur geschehen, wenn zwischen den Toren auch noch ein wenig Platz ist für Besserwisserei.
Das konnte man auch am traurigen Abgang Pep Guardiolas bei den Bayern sehen. Der schöne Spanier hat den schönsten Fußball spielen lassen, der je in diesem Land stattgefunden hat und war damit sogar erfolgreich, dennoch hatte man das Gefühl, er habe etwas Grundlegendes falsch gemacht oder zumindest falsch verstanden. Das alte Narrativ, es als betrogener Underdog doch zu etwas gebracht zu haben, hat bei Guardiola an keiner Stelle Anschluss gefunden. Vielleicht konnten wir ihm aber auch einfach nicht verzeihen, dass er den Sport bis ins kleinste Detail durchdrungen hatte. Um ihm bei Pressekonferenzen auf Augenhöhe begegnen zu können, hätten sich unsere Journalisten sehr viel stärker in die Materie einarbeiten müssen, als hierzulande üblich. In keiner anderen Fußballnation werden die Trainer so selten zu taktischen Details befragt wie in Deutschland. Es scheint, als würde man gar nicht verstehen wollen, was diesen Sport in seinem Inneren zusammenhält. Nirgendwo wird mit so geringem analytischen Sachverstand über ein Spiel gesprochen wie in Fußballdeutschland. Wir befinden uns hier in der letzten Bastion des Halbwissens, und das pflegen wir auch. Das liegt nicht etwa daran, dass es diese Expertise hierzulande nicht gäbe. Im Gegenteil, ein Blick auf den Blog Spielverlagerung genügt, um sich ein Bild vom deutschen Taktikverstand zu machen – die Trainerstäbe der Bundesliga sind voll mit Spielanalysten. Aber in der Öffentlichkeit findet dieser Sachverstand keine Plattform.
Zurück zu Özil. Einen Blick auf die Statistiken werfen und erkennen, dass es sich bei diesem Spieler um einen der erfolgreichsten und konstantesten Torvorlagengeber des Weltfußballs handelt, ist eine Sache. Eine andere Sache ist es, die Schönheit seines Spiels zu erkennen. Das ist eine Frage des Stilempfindens, das in diesem Land nicht nur in Bezug auf Kleidung oder Architektur unterentwickelt scheint, sondern eben auch in Bezug auf Fußball. (Eine dänische Freundin fragte mich einmal, warum deutsche Männer so oft zu lange Hosen trügen, ob sie glaubten, dass sie noch wüchsen. Gute Frage, oder?)
Es ist, als müsste man uns erst den Champagner schmackhaft machen, bevor wir ihn probieren. Und mit Özil verhält es sich in jeder Hinsicht wie mit Champagner: Er wird nicht selten von Angebern getrunken, was nicht bedeutet, dass der Champagner selbst ein Angeber ist. Im Gegenteil: An Noblesse und subtilem Glanz nicht zu überbieten, perlt er unaufgeregt und leise vor sich hin.
Özils Spiel ist auch nicht etwa als torlose Kunst zu betrachten, sondern vielmehr als verbindendes Moment von essentieller Bedeutung für den Spielfluss. Was ihm nicht selten zum Vorwurf gemacht wird, ist seine größte Qualität: Er dominiert nicht, er drückt dem Spiel nicht seinen Stempel auf wie etwa Toni Kroos, der als Sechser nicht anders kann, als den Rhythmus des Spiels zu prägen. Özil beschleunigt das Spiel unmerklich und macht den Weg zurück unmöglich. Seine Pässe lenken vorher im Ungefähren gebliebenes Bestreben, den Ball nach vorne zu treiben. Und das alles mit einem Selbstverständnis und einer gekonnten Leichtigkeit, die ihn beinahe unsichtbar werden lässt auf dem Feld. Özil geht im Spiel auf.
Um auf die Drinks zurückzukommen. Der Champagner ist kein Cocktail, der unter Gebrauch diversen Equipments in Aufsehen erregenden Verfahren zusammengebastelt werden muss. Der Champagner ist einfach da. Entweder man weiß ihn zu schätzen oder eben nicht. Wenn man diese Drink-Metaphorik auf alle Fußballstars anwenden würde, ergäbe sie außerdem eine halbwegs kurzweilige Pausenbeschäftigung und würdevolle Ablenkung vom porösen Halbzeitgeplänkel im Fernsehen: Thomas Müller wäre ein gutes bayerisches Weizen, Jérôme Boateng ein preisgekröntes Pale Ale, Christiano Ronaldo ein perfekter Prince of Wales, Mario Basler hingegen, der sich vor wenigen Tagen mit der unsachlichsten Özil-Kritik der letzten Wochen hervorgetan hat, wäre ohne Zweifel einer dieser peinlichen Cocktails, die mit einem Regenbogen aus Obst garniert werden …