Das neue Suhrkamp Theater Magazin versammelt vier szenische Miniaturen von Sivan Ben Yishai, Thomas Köck, Akın Emanuel Şipal und Miroslava Svolikova, die diesen Sommer entstanden sind. Jetzt erscheinen sie zudem im Logbuch, als kleine Serie.
PROLOG
Als der Prophet geboren wurde (und er wurde geboren: sein Haar roch nach Weihrauch und Orangenblüte), da gab man ihn, wie damals unter wohlhabenden Städtern üblich, in eine Beduinenfamilie.
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Dort würde er,
von Beduinenmüttern gestillt, dem Klang der ab- und zunehmenden Dünen lauschen, und außerdem: ihren Geschichten.
Denn für ihre Geschichten und noch vielmehr für ihre von Sandstürmen geschliffene Sprache waren die Beduinen weit über die Wüste hinaus bekannt. Ihre Sprache hatte selbst in den Küstenstädten auf der anderen Seite des Meeres den Ruf, tiefer zu sein als jeder je von Menschen ausgehobene Brunnen. Als der Prophet als Baby von seinen in extrem teure Gewänder gehüllten Ammen und einer kleinen Schar von Dienern und Wachen also in die Wüste gebracht wurde, da kam es zu einem Streit zwischen den Ammen und den Beduinen.
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Zu jener Zeit herrschte Dürre. So dass die Beduinen ihre Zelte um den letzten Fleck Oase herum aufgeschlagen hatten, einen alten Tümpel in der Mitte, auf dessen Grund ein kleiner Klumpen Schlamm das letzte bisschen Wasser ausbrütete. Unter diesen Bedingungen konnten die Ammen unmöglich das Kind bei den Beduinen lassen. Es war nicht einmal sicher, ob sie selber diese Dürre überleben würden. Die Beduinen aber waren auf das Geld angewiesen, das sie für die Betreuung des kleinen Jungen bekommen würden und wollten die Karawane aus der Stadt um keinen Preis ohne Tauschgeschäft zurückgehen lassen.
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Die Amme, die das Baby in den Armen hielt, hatte sich in Rage geredet und einen Schritt auf die Wortführerin der Beduinen zu gemacht und so berührte sie mit dem Baby die Arme der Beduinenmutter, die sie vor ihren Brüsten verschränkt hatte, und in diesem Moment war es, dass ein dicker Regentropfen einem kleinen Beduinenmädchen auf die Stirn schlug.
Bumm.
Die anderen Kinder glaubten eine Hummel sei im Sturzflug an ihrer Stirn abgeprallt, nur das Mädchen selbst bemerkte, dass es ein satter Tropfen war, ein Regentropfen, der sie aus dem Bann der streitenden Frauen befreit hatte.
„Daja!“, sagte das Mädchen: Regen! Vor dem Hintergrund der Kamele mit ihren Höckern, die schlaff zur Seite hingen, und den Kindern, die an Stofffetzen nuckelten vor Durst, wurde das Mädchen von den Alten für verrückt erklärt. Und ins Zelt geschickt. Mit Regen spaßt man nicht. Nicht wenn Dürre ist. Ein paar Sekunden später flüchtete der ganze Stamm samt Gästen in die Zelte und unter dem ungeheuren Lärm der auf die Zelte einschlagenden Regentropfen wurde das Kind feierlich den Beduinen übergeben.
LOST PROPHET
MÄDCHEN
Wo ist das Baby, Mama?
MUTTER
Seine Eltern haben es abgeholt.
MÄDCHEN
Du bist seine Mutter.
MUTTER
Ich habe es gestillt.
MÄDCHEN
Dann bist du seine Mutter.
MUTTER
Nein.
MÄDCHEN
Wieso stillst du das Baby, wenn du nicht seine Mutter bist?
MUTTER
Das Kind ist in der Stadt geboren.
MÄDCHEN
Hier ist nicht die Stadt, Mama.
MUTTER
Das stimmt.
MÄDCHEN
Wer hat es dir gegeben? Hast du es geklaut?
MUTTER
Geklaut? Nein. Die Eltern haben es mir gegeben, damit ich es stille.
MÄDCHEN
Warum stillt die Mutter nicht?
MUTTER
Weil sie reich ist und gebildet.
MÄDCHEN
Sind wir nicht auch reich und gebildet?
MUTTER
Wir leben einfach.
MÄDCHEN
Was heißt das?
MUTTER
Die Landschaft um uns herum ist reich und gebildet und deswegen leben wir einfach. Wir bilden uns mit der Landschaft.
MÄDCHEN
Ich vermisse es.
MUTTER
Was?
MÄDCHEN
Das Baby.
—
Warum hast du das Baby gestillt, Mama?
MUTTER
Die Städter wollen, dass ihre Kinder die Wüste sehen.
MÄDCHEN
Warum?
MUTTER
Damit die Kinder in Bewegung bleiben, damit sie wachsen.
MÄDCHEN
Aber Kinder wachsen einfach.
MUTTER
Siehst du die Düne dort?
MÄDCHEN
Ja.
MUTTER
Die Düne ist gewachsen.
MÄDCHEN
Sie wächst, ja.
MUTTER
Sie wächst. Und was werden wir machen, wenn es Abend wird?
MÄDCHEN
Wir werden unser Zelt verschieben.
MUTTER
Warum?
MÄDCHEN
Weil die Düne sonst unser Zelt verschiebt.
MUTTER
Das stimmt. Das ist der Grund, warum die Städter ihre Kinder in die Wüste geben. Verstehst du?
MÄDCHEN
Weil die Düne unser Zelt verschiebt?
MUTTER
Na ja. Die Städter leben in Häusern, weißt du?
MÄDCHEN
Was ist das, ein Haus?
MUTTER
Ein Haus, das ist ein festes Zelt. Ein Steinzelt, ein Stein- und Lehmzelt. Ein Haus ist ein Zelt, das man nicht auf- und abbauen kann, ohne es kaputt zu machen.
MÄDCHEN
Warum bauen die Städter so was?
MUTTER
Weil das ihr Leben ist.
MÄDCHEN
Aber das ist doch langweilig.
MUTTER
Nicht unbedingt. Aber damit es nicht langweilig ist, müssen sie ständig ihre Ideen wechseln.
MÄDCHEN
Das ist ja anstrengend. Wenn man eine Idee hat, wie man lebt. Warum sollte man sie dann verändern?
MUTTER
Wir müssen unsere Ideen nicht ändern, weil sich die Landschaft ändert um uns herum.
—
Aber die Ideen der Städter sind fest wie Steine, weil Ideen immer Spiegel der Zelte sind, in denen Menschen leben. Und deswegen müssen sie ständig ihre Ideen zerbrechen und neu zusammensetzen.
Sie müssen sich selbst verändern, weil die Natur um sie herum sich nicht verändert oder kaum. Weil sie sonst sterben würden. Weil ihre Natur die Stadt ist, die aus Steinzelten besteht.
MÄDCHEN
Das klingt hart.
MUTTER
Das Leben der Städter ist hart.
MÄDCHEN
Unser Leben ist weich und rau. Wie die Wüste.
MUTTER
Wie die Wüste, ja.
MÄDCHEN
Warum hast du das Baby also gestillt?
MUTTER
Damit es sehen kann, wie sich die Landschaft verändert. Damit es verstehen kann, dass es sich verändern muss. Immer wieder. Weil das … das Leben ist.
Es muss sich immer was verändern.
Und wenn Menschen Zelte aus Steinen bauen und Lehm, dann müssen sie sich noch mehr verändern.
MÄDCHEN
Dann bist du eine Erzieherin?
MUTTER
Nein, ich stille nur das Baby. Die Wüste ist die Erzieherin. Wir halten die Kinder in den Wind.
MÄDCHEN
Ich vermisse es.
MUTTER
Es wird bald eine Karawane kommen, die bringt das nächste. Das nächste Baby.
MÄDCHEN
Wann kommt die Karawane?
MUTTER
Wenn sie ihren Weg gefunden hat.
MÄDCHEN
Ich warte hier, okay?