Sehr geehrter Herr Jahn,
aus dem Suhrkamp Verlag wurde mir folgender Teil Ihrer Nachricht weitergeleitet:
Sehr interessant für mich Ihr Hinweis auf den Irrtum bezüglich der Verwundungen Hildesheimers (»dass Hildesheimer unter einer ›lebenslangen Verwundung durch Nazi-Terror und Holocaust‹ gelitten habe, trägt leider einen weit verbreiteten Irrtum weiter«). Da würde ich gern Erläuterndes hören, denn zumindest in Hildesheimers Texten sind ja nun die Auftritte der typischen Täter überaus reichlich gesät. (In Tynset werden als Täter vermutete Unbekannte gar wahllos nächtens angerufen und durch Behauptung der Enttarnung zu hektischer Flucht – und damit zu zweifelsfreiem Schuldbekenntnis – gebracht. Die Assoziationen zu Namen von beklemmender Aura führen immer wieder zu klassischen Nazi-Schergen, zu grausigen Schuldigen und zu solchen, die gleichwohl unbehelligt weiterleben, und zumindest das erzählende Ich des Autors zeigt weiterhin auf es wirkenden (und berechtigten) Schrecken an vielen Stellen im gesamten Werk.)
Um darauf gut zu antworten, müßte ich einen Aufsatz schreiben, wofür mir momentan die Zeit fehlt. Versuche ich es also kürzer. Zunächst aus Hildesheimers Sicht: Er hat sich stets darüber amüsiert, wenn man ihn einspurig auf etwas festlegen wollte. Paradebeispiele sind mir da stets Henry A. Lea, den er verspottet hat, weil er für alles und jedes Hildesheimers Judentum verantwortlich machte, und alle, die ihm für den Umzug nach Poschiavo politische Gründe unterstellen wollten. Nun also »lebenslange Verwundung durch Nazi-Horror und Holocaust« (aus Ihrer ersten Fassung).
Diese Art gefühlig-allumfassender Formulierung ließe ein ganz anderes Werk als das Hildesheimer’sche erwarten, trifft also daneben. Zudem war Hildesheimer persönlich niemals nationalsozialistischen Attacken ausgesetzt. Hildesheimer sagte u. a.: »Ich habe einen interessanten Krieg verbracht.« In einem der Briefe an die Eltern schreibt er kurz vor Ausbruch des Krieges, es tue ihm zwar leid, daß er sich nicht einmal über den wohl direkt bevorstehenden Krieg aufregen könne, aber das sei nun mal so. Und dieses Verhältnis zur »Wirklichkeit« spiegeln ja auch die Briefe an die Eltern in toto: eine knappe oft beinah gleichgültige Bemerkung zum Weltgeschehen, und – zuweilen übergangslos im gleichen Absatz – ausführlich und engagiert über sein momentan in Arbeit befindliches Werk, ob bildkünstlerisch oder literarisch. (Nürnberg, okay, aber das war etwas Sekundäres.)
Das Collagieren war Hildesheimers ureigenstes künstlerisches Verhaltens- und Kreativitäts-Muster. Zuweilen denke ich – aber sozusagen nur geheim und am Rande –, da sei aus der Not eine Tugend geworden. Daß er rotgrünblind war, ist ja bekannt, das meine ich aber jetzt gerade nicht zuvörderst, sondern was ihm Paul Geheeb ins Abgangszeugnis der Odenwaldschule geschrieben hat: »Kann einfache Geschichten nicht wiedergeben.« (Vorsicht! Frei, aber wohl korrekt zitiert!) Wie dem auch sei. Collagieren bedeutet: arbeiten mit vorgefundenem Material. Die found objects der Surrealisten bringen sich in Erinnerung, klar. Daß er vom Surrealismus geprägt ist, sagt er immer wieder. – Zum Collagieren wäre indes noch viel zu sagen. Ich ziele in unserem Zusammenhang aber auf etwas Spezielles: Das vorgefundene Material ist eben nicht nur, wie beim bildenden Künstler, Bogner-Moden und Bildbände anderer Künstler, denen er ab und zu genüßlich zeigte, daß aus ihren Sachen doch noch etwas zu machen war, vorgefundenes Material ist auch Sprache, und eben auch Erfahrenes, Gehörtes, Gedolmetschtes. Dazu muß man außerdem Hildesheimers Diktum berücksichtigen, daß Tagespolitik etwas für Journalisten sei, beim Schriftsteller sei jedoch wesentlich, daß alles durchs Unbewußte gegangen sein müsse, und was sich danach an der Oberfläche zeige, sei verwandelt, und ein Schriftsteller, der, wenn er sich selbst ausdrücke, nicht gleichzeitig seine Zeit ausdrücke, sei »doomed«.
Collagieren meint also einen höchst artifiziellen Vorgang, dessen besondere Gestaltung vom Unbewußten diktiert und dessen Inhalt auf Universelles zielt. In einem der Suhrkamp-Collagen-Bände spricht Hildesheimer von der ästhetischen Aufgabe, die jede Collage darstelle. Um es vereinfacht zu sagen: Die Dinge, mit denen er in Nürnberg konfrontiert war, sind diesen Weg durchs Unbewußte gegangen, und was danach zum Vorschein kam, war eben k e i n e lebenslange Verwundung, sondern Verarbeitung in einem intrikaten Prozeß eines bewußten Unbewußtseins oder unbewußten Bewußtseins.
Die sogenannten absurden Stücke – von ca. 1957 bis ca. 1961 – sind Ausdruck von Hildesheimers Verwurzelung im Surrealismus. Ins seinerzeit spektakuläre Lager der Absurden hat er sich stellen lassen, er wäre sonst ja einer geschäftsfördernden Strömung zuwidergeschwommen. Dazu kommt, was er einmal gesagt hat: Wenn ich etwas gut finden würde, und alle anderen würden es schlecht finden, würde auch ich es schlecht finden.
Die »absurde« Phase in der Dramatik färbte auf die Prosa ab, die letzten beiden Lieblosen Legenden tönen völlig anders als alle früheren. Und spätestens mit Vergebliche Aufzeichnungen (man könnte die letzte Legende, Schläferung, noch dazurechnen) begann die Prosa-Phase, die ich Tynset–Masante-Komplex nenne. Diese Phase währte von ca. 1962 bis ca. 1973. Hier treten die Schergen auf, vom noch nahezu unbewußten Durchscheinen in Vergebliche Aufzeichnungen zunehmend klarer, bis zuletzt ganz offen in Masante, das allerdings mit fünf Jahren Verspätung erschien. Angeregt und aus dem Unbewußten aufgestiegen gewiß auch wegen des ersten deutschen Nazi-Prozesses, dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozeß (Beginn am 28. April 1958; Hildesheimer hatte zu dieser Zeit mit der Hochschule für Gestaltung viel zu schaffen, das wurde gewiß diskutiert, und Einsatzgruppen: das war schließlich in Nürnberg s e i n Prozeß gewesen), flankiert 1965 von den Diskussionen um die Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen.
Und wieder läßt sich ein Gedanke zumindest streifen: Dieses Thema war zu dieser Zeit en vogue. Was sich aber zweifelsfrei sagen läßt: Dem gewieften Theatermann Hildesheimer war eine literarische Konstellation, in der es böse Feinde als Gegenüber gab, praktikabel geworden. Und schon 1974, im Jahr nach Masante, in Hauskauf, sind diese Feinde nicht mehr die Nationalsozialisten, sondern die Umweltschänder.
Verzeihen Sie diese etwas plakativ geratenen Ausführungen. Es wäre noch viel zu sagen, zu differenzieren, und es ist ja immer mißlich, ein Beziehungsgeflecht an einer Stelle zu fassen, weil sich damit alles verzieht.
Herzliche Grüße!
Ihr Volker Jehle