die erste version dieses textes ist entstanden, nachdem ich beim dramatiker*innenfestival graz 2016 gebeten wurde, ein statement zum thema »warum theater« abzugeben. ich habe einen text über die körper der zuschauer geschrieben, weil ich mit meinem körper selber auch ganz gerne ins theater gehe. und weil ich selber ein ganz zerrissener mensch bin, und weil wir manchmal in einer ganz zerrissenen welt zu leben scheinen, geht es, nicht ganz ohne pathos, auch um die potenzielle ganz-heit des theaters.
dem theater wohnt das kollektive inne.
1 das kollektive des entstehungsprozesses, widergespiegelt im kollektiven bemühen von autorin, dramaturg, regisseurin und schauspieler, und im aufeinandertreffen von haus, subvention und publikum.
2 das kollektive des theaterabends selbst. die aufführung wird nicht ohne die zuschauer stattfinden. die schauspieler geben ihr bestes nicht für den leeren raum. der theaterabend lebt von der vollen präsenz der darbietung. ohne die physische anwesenheit der zuschauer gibt es keinen theaterabend. die darbietung lebt von der aufmerksamkeit der zuschauer, von der stimmung im raum, vom applaus am ende der vorstellung. man tritt in den saal: man bildet eine kurze gemeinschaft.
der theatersaal denkt die körper der zuschauer mit. die körper im saal sind traurig oder erregt, müde oder amüsiert, sie husten, lachen oder verlassen den saal. es gibt eine reaktion, die sich durch den körper niederschlägt, durch unruhe, anspannung, ausgelassenheit. durch angespannte aufmerksamkeit, indifferenz oder heiterkeit. die vielen körper erzeugen etwas, das nur für die dauer der vorstellung existiert.
anachronistisch und temporär
das theater ist anachronistisch: es ist nicht teil einer bestimmten zeit, es ist teil jeder zeit. die zeitform des theaters lautet: immer wieder und nur genau jetzt, seit langem schon und noch nie so. die aufführung wiederholt sich und ist jedes mal nicht gleich. das alte wiederholt sich und sagt uns etwas über das neue. das neue war noch nie da und wird deshalb geschichte. der augenblick kehrt nicht wieder, der spielplan ist mit augenblicken gefüllt. das theater stirbt – das theater lebt immer weiter.
im theater berühren sich zeitlosigkeit und aktualität, flüchtigkeit und wiederholung. theater ist zeitloses durch die haut der vergänglichkeit, ephemeres durch die haut der institution.
das theater ist körperhaft wie die stimme, wie der raum, wie das licht. das theater ist nicht digital. das digitale ist auf den körper nicht angewiesen. das digitale vervielfältigt die information und isoliert die körper. der digitale inhalt bedenkt die körper der zuschauer nicht mit. der digitale inhalt zirkuliert unabhängig von der physischen präsenz und aufmerksamkeit der zuschauer. er genügt sich selbst, er bildet einen zweiten raum, in den der körper keinen zutritt hat.
verkopft und verkörpert
der theatersaal ist ein temporärer container für die körper der zuschauer. die vielen körper partizipieren an einer stimmung. die stimmung entsteht in und durch eine information. die information besteht aus eindrücken, stimmen, inhalten und bildern; aus kostümen, theorien, monologen und dialogen; aus lichtwechseln, liedern, einfällen und bühnenwechseln; aus videoeinspielungen, körperhaltungen und blicken; aus textfragmenten und gegenständen; aus kollektivem wissen, dem zeitgeist, dem faltenwurf des vorhangs in der ersten pause; aus vorangegangenen diskursen, dem blauen licht im zweiten akt, dem frösteln im ersten, einem kurzen schrei; aus diskurs, haut, licht und geschichte; aus gegenwart, traum und vision; aus utopie, zumutung, darbietung und applaus.
die informationen werden vom kopf aufgenommen und vom körper, gleichzeitig, eines individuums, gleichzeitig, in einer kurzen gemeinschaft, mit anderen, die, gleichzeitig, derselben information ausgesetzt sind. der zuschauerraum ist organisiert. das zusammentreffen der körper folgt einer choreografie.
das theater ist teil des diskurses einer gesellschaft über sich selbst und spannt einen bogen, der weit genug ist, um intellektuelle und mythische, visuelle und emotionale, akustische und melodische eindrücke zu umfassen, mit genug platz für pathos und ironie und alles dazwischen auch. all diese möglichkeiten wohnen dem theater inne.
ein altes bedürfnis wird damit angesprochen: das bedürfnis des menschen nach ganzheit. die nicht erreichbare ganzheit von informationen, durch sprache, bild und ton, durch raum und stimmung; von gestern und heute; von kollektiv und individuum, von allgemeingültigkeit und konkreter verankerung.
theater mag archaisch oder visionär, allgemeingültig oder verstaubt, aktuell oder zeitlos, poetisch oder reaktionär, schlecht oder großartig, elitär oder einfach nur der kanal einer volksneurose sein; potenziell ist es all diese dinge.