Friedrich Forssman ist Mitarbeiter der Arno Schmidt Stiftung. Er gestaltet unter anderem sämtliche Publikationen der Stiftung, darunter die Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts, die im Suhrkamp Verlag erscheint. Bei seinen Ausführungen zum Thema eBook handelt es sich um seine persönliche Meinung.
Muß man eigentlich noch etwas gegen E-Books sagen? Müssen sie einem nicht womöglich leid tun, die albernen Dateien, die gern Bücher wären, es aber niemals sein dürfen? Ja, das muß man, und nein, das müssen sie nicht, sie sind ein Unfug, ein Beschiß und ein Niedergang.
Vom Beginn des gedruckten Buches, also gegen Ende des 15. Jahrhunderts, gibt es schöne Briefe (erhalten, weil auf Papier geschrieben) von Humanisten, die entzückt waren: daß gedruckte Bücher nun durch Auflage und Verteilung erstens endlich nicht mehr versehentlich verlorengehen konnten – im Gegensatz zu Handschriften, die äußerst mühsam herzustellen, also selten waren, und gut brannten. Daß gedruckte Bücher zweitens aus demselben Grund nicht mehr absichtlich zum Verschwinden gebracht werden konnten, im Gegensatz zu Handschriften, die es fast immer nur in winzigen Auflagen und meist an exponierten Stellen gab und die diversen erfolgreichen Vernichtungsstrategien ausgesetzt waren. Daß drittens durch die neue Technik Bücher hergestellt werden konnten, die korrigierte, verläßliche, zitierfähige Texte boten, im Gegensatz zu den Handschriften samt deren ewigen Schreibfehlern, Auslassungen und Varianten. Daß das einzelne Buch endlich erschwinglich angeboten werden konnte, dabei aber durch die Auflage dennoch ein funktionierendes Geschäft daraus werden konnte. All diese Fortschritte, seit Jahrhunderten bestätigt und bewährt, nimmt das E-Book zurück.
Sie dürfen ein E-Book nicht weiterverkaufen. Wenn Sie ein E-Book kaufen, kaufen Sie nur eine Lizenz. Der Börsenverein, der mit seinem eigenen Lesegerät (inzwischen eingestellt) und seinem »Libreka«-E-Book-Plattform-Flop Millionen verbrannt hat (die mit ehrlichen Papierbüchern verdient worden waren), »begrüßt die Entscheidung« des Landgerichts Bielefeld (5.3.2013, Az. 4 O 191/11) auch gleich fröhlich: »›Bei digitalen Dateien gibt es keinen Qualitätsverlust durch Benutzung. Deshalb bräche der Primärmarkt für digitale Kreativgüter zusammen, wenn Verbraucher E-Books und andere digitale Inhalte einfach ›gebraucht‹ weiterverkaufen dürften‹, sagt Börsenvereinsjustiziar Christian Sprang. Urheber und ihre Verwertungspartner könnten Verbrauchern dann keine attraktiven digitalen Inhalte mehr anbieten.« (boersenverein.de) Erstens ist das Quatsch. Auch ein Papierbuch erleidet kaum Qualitätsverlust durch Benutzung. Zweitens ist das ein prächtiges Beispiel für die abstoßende Marketing-Sprache derjenigen, die statt Büchern auch alles andere verscheuern würden (beziehungsweise beim Versuch scheitern, siehe oben). Jedenfalls bedeutet das: Sie werden Ihre E-Bibliothek nicht weitergeben können. Sie werden E-Books, an denen Sie die Rechte erworben haben, womöglich nicht mal so lange benutzen können, wie Sie möchten – falls der Rechteinhaber es so beschließt oder er pleite geht, ist auch das E-Book weg. Solche Fälle gibt es jetzt schon, obwohl der Unfug noch gar nicht lange währt. Sie können ein E-Book natürlich auch nicht einfach verleihen, das wäre ja noch schöner. Dazu müßten Sie Ihre Account-Daten weitergeben, Sie wissen schon, die mit den vielen ekligen Sonderzeichen in den langen Paßwörtern, die Sie ständig wechseln sollen und die ständig en gros gestohlen werden, samt Ihrer Kreditkartennummer. – Zum 31. März 2014 schließt »PagePlace als Produkt der Deutschen Telekom AG für digitales Lesen«. Sie möchten die Erlaubnis, auf die von Ihnen erworbenen E-Book-Lizenzen zugreifen zu können, auf andere Anbieter übertragen?: »Bitte beachten Sie, dass Sie bei DRM-geschützten Titeln nicht nur die ACSM-Ticketdatei laden, sondern diese auch via Adobe-ID lizenzieren und aktivieren müssen«, wie die FAZ süffisant am 22. Januar zitiert hat.
E-Books sind praktisch? Was Sie lesen und wie Sie lesen und auf welcher Seite Sie länger lesen und wo Sie die Lektüre abbrechen und was Sie kommentieren und wie Sie kommentieren – all das kann natürlich von höherer Stelle mitgeschnitten werden. Es gibt Erfahrungsberichte, in denen Naivlinge jubeln: wenn man auf dem »Tablet« angefangen habe, irgendwas zu lesen und später auf dem Telefon weiterlese, kämen die dazu gemachten Notizen gleich aus der Cloud angehoppelt, hurra! Aber wer nicht am Cupertino-Syndrom leidet, weiß: Das ist nicht praktisch, das ist gespenstisch. Gespenstisch auch, daß die Evaluierung dieser Daten dazu benutzt wird, »attraktive digitale Inhalte« noch attraktiver zu machen. Sie haben nach Ende der Lektüre von Band 1 nicht gleich Band 2 bestellt? Sie haben die Lektüre womöglich gar nicht beendet, sondern bei jener gewissen Länge nach dem ersten Drittel aufgehört? Dann muß der Text an den entsprechenden Stellen kürzer oder glatter gemacht werden und der Cliffhänger am Schluß steiler, damit Sie Verbraucher ihn besser verbrauchen können.
Denn E-Book-Dateien können natürlich auch einfach zensiert werden. Ihr »tolino«, »Kindle«, »Kobo« oder wie infantil das häßliche, morgen veraltete Dingsbums auch immer heißt, das Sie gekauft haben (und Sie müssen mehrere kaufen, weil nicht jedes E-Book auf jedem Dingsbums verfügbar ist), fällt in die Badewanne, ist nicht mehr schick oder hat wieder diesen Wackler am Ladekabel. Sie loggen sich kompliziert in Ihren Account ein und laden Ihre Bibliothek erneut (wenn Sie nicht zum Beispiel zwischenzeitlich Ihren Amazon-»Account« gelöscht haben, weil Sie schlechte Arbeitsbedingungen schlecht finden und lebendige Innenstädte mögen – denn dann haben Sie auch keinen Zugang mehr zu Ihren gekauften Amazon-E-Books). Und, hurra, Sie bekommen womöglich gleich neue Versionen von den Texten, vielleicht mit gerechterer Sprache oder noch neuerererer Rechtschreibung oder dort neuerdings gekürzt, wo vorher diese Länge nach dem ersten Drittel war, oder so was. Ein intellektueller, philologischer und überhaupt ein Graus.
Das alles gilt natürlich nicht für alle E-Books. Manche lieben, kleinen Anbieter sind bestimmt ehrlich, so lange zumindest, bis sie von großen, bösen Anbietern geschluckt werden oder pleite gehen oder sich in böse kleine Anbieter verwandeln. Da hilft nur die ausgiebige Lektüre des unverständlichen, tausendseitigen Kleingedruckten, das so lange gilt, bis es nicht mehr gilt. Natürlich lassen sich all die Kopier-, Verleih- und sonstigen Mechanismen umgehen. Das ist zwar verboten, aber auch für Laien so einfach wie das Klauen von Musik. Sind irgendwem die Probleme der Musikindustrie (die auch nicht böser ist als die Buchverlage, jedenfalls nicht viel böser) noch unbekannt? Willkommen in der wunderbaren Welt der Abmahn-Kanzleien. Bald haben Sie alle denkbaren Nachteile versammelt: Die E-Books gehören Ihnen nicht mehr, Sie dürfen sie nicht verleihen, Sie können sie nicht verkaufen, zum Verschenken eignet sich eine Datei übrigens auch nicht so recht, dafür aber lohnt es sich nicht mehr, Bücher zu lektorieren und zu korrigieren, weil mit ihnen nichts mehr verdient werden kann, landen sie doch sowieso bald auf illegalen, dafür aber leicht erreichbaren Download-Seiten. Autoren werden schlechter bezahlt (außer paar Weltstars) und können sich neuerdings statt ums Schreiben um alles kümmern, was vorher der Verlag gemacht hat. Ihre Texte landen dann in E-Book-Flatrate-Angeboten, »ein attraktives Abrechnungsmodell« (lesen.net) – à la Spotify womöglich? »Dem Musik-Streamingdienst Spotify bringt das schnelle Wachstum bisher nur höhere Verluste.« (heise.de) »Bei den Künstlern selbst landet allerdings ein viel kleinerer Teil der Einnahmen.« (gruenderszene.de)
Ein beliebtes Argument für E-Books ist das leichtere Umziehen. Nun, außerhalb von Berliner Hipsterkreisen, in denen das vierteljährliche Wohnungswechseln einfach dazugehört, ist das kein so häufiger Vorgang. Sodann: Man kann dreißigtausend Bücher mit an den Strand nehmen. Meine Erfahrung als verdienter Leser des Volkes ist, daß für einen dreiwöchigen Urlaub zwei oder drei Bücher ausreichen, und wenn man Reclamhefte mitnimmt, sind die sogar leichter als ein »kobo glo« (»Willkommen bei Kobo Reading Life™«) oder ein »tolino shine« (der aus der »tolino-Welt«). Man brauche, hört man den Hipster lallen, keine Bildungsbürgertapete mehr als Angehöriger der digitalen Elite. Nun ist sowohl »Bildung« als auch »Bürger« etwas, was ich dringend haben beziehungsweise sein möchte. Mein Bücherregal ist ein Abbild dessen, was ich gelesen habe und was ich noch lesen möchte, es ist ein vergnüglich durchstöberbares Archiv, in dem auch thematisch passende Grafiken, Fotos und Schneekugeln Platz haben und durch das ich für diejenigen, die ich in meine Wohnung lasse, erkennbar bin, was mir recht ist, für diejenigen, die leider draußen bleiben müssen, aber anonym bin, was mir noch lieber ist. Das E-Book dreht dieses Verhältnis um.
Sodann bietet ein Buch hochwillkommene intuitive Orientierung. Wie dick es ist, wie man vorankommt, das sieht und spürt man im Papierbuch, der Reader kann da höchstens alberne Simulationen liefern. Und Bücher liegen so schön herum und bereit: Man kann sie sich in den Weg legen, man kann einen Stapel neben dem Bett haben, drei im Wohnzimmer und ein Bücherbord auf der Toilette, man kann in jedem Jackett ein Reclamheft stecken haben. Beim Arbeiten kann man so viele Bücher an so vielen Stellen aufgeschlagen herumliegen haben, wie der Schreibtisch beziehungsweise der Fußboden groß ist, und Lesezeichen muß man nicht »verwalten« (unter den Augen von Big Data), sondern man steckt sie einfach dorthin, wo man möchte (und Big Data sich seine Ausspähwut dahin, wo die Sonne nicht scheint).
Zur Ästhetik des E-Books kann ich gar nichts schreiben, denn es gibt sie nicht. »Content«, wenn ich das schon höre. »Content – don’t you hate it? It’s the new c-word.« (Tyler Brûlé) »Ich habe noch nie einen Inhalt ohne Form gesehen« (Judith Schalansky). Die Form des Buches ist günstigstenfalls überlegt, funktional und schön; schlimmstenfalls gleichgültig. Die Form des E-Book-Textes auf dem Reader ist zufällig, frei wählbar und bestenfalls eine Zumutung. »Wenn der Nutzer ein Buch […] auf seinem Toaster lesen will, soll er das tun«, so Sascha Lobo (auf zeit.de). Aber auch Lobos Digitalbegeisterung, die den Nichthysteriker schon immer eher befremdet als angesteckt hat, ist danach bekanntlich einer gewissen Ernüchterung gewichen: »Das Internet ist nicht das, wofür ich es gehalten habe.« – »Das Internet ist kaputt.« (FAS vom 12. Januar 2014)
Und, übrigens: Ich möchte nie, nie wieder auf ein Podium geladen werden – als amüsantes Buch-Fossil, als Kontrastprogramm zu den Zukunftsvisionären in Form von Google-Oligarchen, Börsenvereins-Geldverbrennern und analphabetischen Digitalhipstern mit ADHS im Vollbild – und mir noch ein weiteres Mal anhören müssen, »daß ja noch nie ein neues Medium ein altes Medium verdrängt habe«. Bitte, bitte nie wieder diesen Unfug sagen, ja? Der Codex hat das Rollenbuch verdrängt, das gedruckte Buch hat das handgeschriebene verdrängt, das Radio die Hausmusik, das Fernsehen das Radio (jedenfalls als Leitmedium), das Internet das Fernsehen (jedenfalls als Nervmedium). Natürlich kann das Papierbuch verdrängt werden, wenn die Dummheit überhandnimmt. Die Nische reicht uns nicht: Wir wollen ja nicht, daß das Buch gnädigerweise in Form pralinenschachtelartig überdesignter Geschenkdinger oder Prachtausgaben überleben darf, sondern daß alles, was wert ist, gelesen zu werden, weiterhin gedruckt wird. Und das schließt nicht nur die Hoch-, sondern auch die Flachliteratur ein und auch den Mist und die Graue Literatur und Landkarten und Reiseführer und Prospekte und alles, wovon wir froh sind, daß es das aus alten Zeiten noch gibt.
Also, endlich: warum keine Arno-Schmidt-Texte auf E-Books? Allein das Haltbarkeits-Argument würde ausreichen, hat Arno Schmidt sich doch höchst abfällig über klebegebundene, »gelumbeckte« Bücher geäußert, weil sie nicht halten: Bücher, »von denen drei=Viertel bereiz aus loosn Blättern beschtandn: Oh Lumbecklumbeck, graußer Lumbeck=Du!«. Das Überleben von Texten den Launen anonymer Großkonzerne auf alle Zeiten zu überlassen, das widerspricht Schmidt, dem Ausgräber von Längstvergessenem, diametral. Bücher kommen vielleicht aus der Mode, sie überleben aber zuverlässig, im Originaltext ihrer Zeit, in der Orthographie ihrer Zeit, in der Ästhetik ihrer Zeit, in der Technik ihrer Zeit, und können und werden auch dann noch wiederentdeckt werden, wenn Amazon von Apple gekauft worden ist und beide von Google und Google von Gazprom und Gazprom von den Chinesen und die Chinesen von Qatar und alle zusammen längst pleite sind.
Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit.