Vor ein paar Tagen schrieb mir ein Assistent von Alexander Kluge. Er habe sich jetzt mit Band 5 von Schleefs Tagebuch, in dem es auch um Begegnungen mit Kluge geht, beschäftigt und sei beeindruckt. Er habe Kluge davon berichtet – der sich allerdings für derart auf die Persönlichkeit des Schreibenden konzentrierte Literatur nicht besonders interessiere … Womit wir bereits beim zentralen Punkt von Schleefs Auseinandersetzung, auch mit Kluge und Kluges Texten, aber vor allem am zentralen Punkt seiner eigenen Tagebuch- und Erinnerungsarbeit sind. Tagebuch, das war für den Autor Kampf, Kampf um die Wahrheit der Erinnerung – Erinnerung als Selbst-, als Weltvergewisserung verstanden. »Nichts aus den Archiven geht mich an, es ekelt mich vor den Dokumenten. Das einzige Dokument bin ich: der Streifen Papier, an dem die Fliegen (die Erinnerungen) kleben bleiben.« (Valerio Magrelli) Gültig kann für Schleef nur sein, was durch das Ich hindurchgegangen ist, was sich darin sedimentiert und ordnet und verschiebt, nichts anderes. Jedoch: Diesem instabilen, sich verändernden Speicherinhalt gilt es so radikal wie möglich, bis in die hintersten Winkel und mit allen Verunreinigungen, Brüchen, mit allem, was sich zu entziehen versucht (und: wie es das tut), auf die Spur zu kommen. Was für Schleef dazu führt, dass er in den zehn letzten Jahren seines Lebens beim Abschreiben früherer Aufzeichnungen und beim Aufschreiben der aktuellen Ereignisse, Träume, Überlegungen eine zweite Ebene einzieht. Er verfasst Kommentare, die berichtigen, erweitern, kritisieren, neu ansetzen, und fügt diese Texte ins Tagebuch ein. Also: Er wirft nicht die alte Fassung weg und ersetzt sie durch die neue, definitive, sondern er präsentiert beides, die alten Aufzeichnungen und die neuen Kommentare. Damit stellt er, flapsig gesagt, die Thematisierung der Erinnerung (Was ist das? Wie funktioniert sie? Wie kommt man ihr auf die Schliche?) ›auf Dauer‹. Die resultierende Zweistimmigkeit belebt sein Tagebuch ungemein.
Bis zum 19. Januar 2014 zeigt die Berliner Galerie Parterre Zeichnungen des großen Theatermachers Einar Schleef. Im Rahmen der Ausstellung las Sophie Rois Ende November aus Schleefs legendärem Tagebuch. Zur Einleitung sprach Hans-Ulrich Müller-Schwefe – Schleefs Lektor zu dessen Lebzeiten und heute gemeinsam mit Gabriele Gerecke Nachlassverwalter und Erbe – über Entstehung und Veröffentlichung des Tagebuchs, das neben dem Roman Gertrud und dem Großessay Droge Faust Parsifal zu den Hauptwerken des Autors zählt.
Einar Schleef starb am 21. Juli 2001. Sein Tagebuch erschien postum, von 2004 bis 2009, in fünf Bänden. Es deckt den Zeitraum von 1953 (da war Schleef neun, Band 1 beginnt mit einer eindrucksvollen Reihe von Versuchen, den Aufstand vom 17. Juni, wie er sich in seiner Heimatstadt Sangerhausen abspielte, zu beschreiben) bis 2001 ab. Die Bände haben alle etwa den gleichen Umfang. Der erste reicht bis 1963, der zweite von 1964 bis 1976 (also die Jahre in Ostberlin, an der Kunsthochschule Weißensee, nach der Relegation, mit den Anfängen am Theater), der dritte von 1977 bis 1980 (nur drei Jahre – warum? Weil Schleef 1976 in den Westen wechselte und daraufhin erst mal allein, desorientiert, im Konflikt mit der neuen Umwelt, dem anderen Gesellschaftssystem, anderen Frauen, ganz anderem Essen usw. und ohne Arbeit war und schreibend an sich festzuhalten sich bemühte – u.a. durch die Aufzeichnung einer Unzahl von Träumen – Krisenträumen, Bewältigungsträumen, wenn man so will –, die ihn heimsuchten). Der vierte Band behandelt den Zeitraum von 1981 bis 1998 (da hat er für das Tagebuch nicht viel Zeit; umfangreiche Interviews springen stellvertretend ein und Prosa, die in diesen Jahren seiner Vollbeschäftigung entstand). Der fünfte Band reicht von 1999 bis zu seinem Tod: nur zwei Jahre, ein dicker Band für einen kurzen Zeitraum, wie schon der zweite. Diesmal ging es ums Sterben, das er vorausspürte, nicht erst seit dem Zusammenbruch im Januar 2001. Er haderte mit seinem Leben, er haderte mit der Theaterarbeit. Im Westend räumte er seine Wohnung in der Nußbaumallee auf – sie diente ihm in den letzten Jahren hauptsächlich als Lager für die Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Manuskripte, weniger als Wohnung. Wohnen, wenn überhaupt, tat er lieber in Wien in der Schönborngasse. Er schwamm in der Donau und schrieb nächtelang Tagebuch, floh vor der Theaterarbeit ins Schwimmen und Schreiben. »Schwimm Schreib Stirb«, dies die Devise des fünften Bandes.
Einar Schleef räumte in den letzten Jahren auch unter seinen Schriften auf. Er stellte einen Publikationsplan auf. Prosa, die im weiteren Sinne nicht mit Sangerhausen, nicht mit dem Gertrud-Komplex, nicht mit dem Theater zu tun hatte, sammelte er und nannte die Kompilation Kontainer Berlin. Eine Arche Noah für das Verstreute, in vielen Jahren Entstandene. Es sollte gerettet, gesichert – und es sollte veröffentlicht werden. Mehr als die Art der Zusammenstellung oder die Qualität einzelner Texte leuchtete mir damals der Rettungsimpuls ein. Meine nicht ungebremste Empfehlung hatte keinen Erfolg. Der Verleger lehnte Kontainer Berlin ab. Schleef reagierte konsterniert, dann aber mit Trotz. Es war nicht die erste Auseinandersetzung mit dem Verlag. ›Jetzt erst recht‹ war seine Parole. Er nahm die Sache produktiv und – es entstand ein Vorwort zu Kontainer Berlin; ein programmatischer, fast vermächtnishafter Text zum autobiographischen Schreiben, seinem eigenen.
Als das Vorwort nicht half, als es bei der Ablehnung durch den Verlag blieb, ging Schleef aufs Ganze, er hob das Kontainer-Projekt ins Tagebuch auf. Gegenstand nunmehr: sein ganzes Leben, nicht nur die Berliner Jahre. An den passenden Stellen wurden herumschwirrende Einzeltexte in das Tagebuch eingebaut. So entstand ein Gebirge. Und wieder unterbreitete ich dem Verlag den Vorschlag. Und noch einmal gab es eine Absage. Das war wenige Wochen vor Schleefs Tod. Einar Schleef grollte dem Verlag. Er grollte mir.
Erst nach Siegfried Unselds Tod (er starb am 26. Oktober 2002, fünfzehn Monate nach Schleef) konnte das Tagebuch neu zur Diskussion gestellt werden. Diesmal wurde es zur Veröffentlichung angenommen. Winfried Menninghaus wurde als Herausgeber gewonnen (anfangs zusammen mit Wolfgang Rath). Johannes Windrich leistete die Hauptarbeit, Sandra Janßen half. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützte die Edition finanziell. Ich nahm den Verlagsmund voll und kündigte »einen der großen Bekenntnistexte der deutschen Literatur« an. Das Echo auf den ersten Band war beträchtlich, das auf die weiteren Bände weniger. Das Tagebuch als Ganzes ist in den Medien kaum gewürdigt worden.
Sophie Rois liest erstens das Vorwort zu Kontainer Berlin. Es ist am Schluss des fünften Bands abgedruckt. Und zweitens: eine Aufzeichnung aus der Reha-Klinik in Graal-Müritz. Februar 2001, einen Monat nach dem Zusammenbruch, nach Herzoperationen, nach der Einsetzung eines Schrittmachers im Jüdischen Krankenhaus – fünf Monate vor seinem Tod: Schleef schimpft und ärgert sich und macht sich einen grimmigen Spaß daraus, das Schimpfen und Ärgern zu Papier zu bringen. Unterhalten? Natürlich wollte Schleef, kämpfend, bis zuletzt, auch unterhalten!