Der Theaterautor Dominik Busch reiste im Oktober/ November 2017 für zehn Tage zusammen mit anderen Autorinnen und Autoren durch Russland, da u.a. sein Stück Das Gelübde dort in einer szenischen Lesung präsentiert und diskutiert wurde. Für das Logbuch berichtet er in zwei Teilen über die vier Stationen dieser Reise: Moskau – Nischni Nowgorod – Tscheljabinsk – Krasnojarsk
Tscheljabinsk
Mein Fahrer fährt einen schweren, breiten BMW. Und er fährt ihn nicht nur, er ist dieses Fahren. Das Fahren und er sind eins, das Fahren macht ihn aus, er scheint darin aufzugehen. Er stellt nicht einfach den Blinker und überholt. Alles ist hier mehr als ein asphaltgraues Manöver, alles ist hier: übergroßes Zeigen, hat etwas Theatralisches, alles, was zum Fahren und zur Fahrt – von einem Flughafen im Süden Moskaus zu einem Flughafen im Norden der Stadt – gehört, ist ein großes: kuck mal, so blinkt man hier bei uns, schau mal, so überholt man hier bei uns, und das Beschleunigen ist mehr als ein Erhöhen der Geschwindigkeit, bei dem ich spüre, wie mein Hinterkopf in die Kopfstütze hinein gedrückt wird, es ist ein: fühl mal, so ist das, wenn wir hier im Morgenverkehr auf einer Sechsspurigen mit voller Kraft aufs Pedal treten. So machen wir das hier, wir Männer. Das Abbremsen und Hupen, das Abbiegen und Beschleunigen, das Fahren mit allen seinen Gesten wird zu einer Inszenierung von Männlichkeit – einer sympathischen Inszenierung im vorliegenden Fall, weil sie bei diesem Fahrer etwas Verspieltes, etwas ironisch Spielerisches behält: wie ein Hemd, das man meint tragen zu müssen, weil alle es tragen, das einem aber zu groß ist und weil es zu groß ist, deshalb kann man es wohl nicht anders tragen als: augenzwinkernd. Ich frage mich nicht oft in meinem Leben, was das ist: Männlichkeit, aber in den zehn Tagen in Russland frage ich es mich immer wieder.
Ich frage mich nicht, was Männlichkeit ist, wenn ich eine Stunde später in der Schlange vor dem Check-in-Schalter für den Flug nach Tscheljabinsk stehe. Vor mir eine Gruppe von Männern, die meisten groß und breit, in dicken Strickpullovern und langen braunen Lederjacken, alle nach Zigarettenrauch riechend. Ein paar Stunden später, schon in Tscheljabinsk, frage ich mich hingegen schon, was Männlichkeit ist: Als Gast werde ich von einer Sekretärin feierlich in das Arbeitszimmer eines Rektors geführt. Die Blicke, die Gesten, das alles zeugt noch von einem Sinn für Autorität, wie ich ihn in meinem Leben nicht kennen gelernt habe. An der Wand hinter dem massiven Schreibtisch hängt ein Foto des Präsidenten, aufgenommen im Cockpit eines Militärjets, mit handschriftlicher Widmung. Auf eine klobige Bronzestatue – dies die erste Mutprobe – weist man mich hin und sagt mir, dass sie die weibliche Allegorie Russlands darstelle, dass Russland aber sehr schwer sei, und dass ich das Gewicht ihres Heimatlandes am eigenen Leib spüren solle, worauf man mich auffordert die Statue hochzuheben und einige Momente in der Luft zu halten. Das Ding ist wirklich sehr schwer, keine Frage. Ich halte es hoch so gut ich kann und halte es eine Weile, bis ich es zurück auf den Tisch stelle. Und frage mich, warum man auf die Idee kommt, das eigene Heimatland mit Schwere zu assoziieren? Warum nicht mit Leichtigkeit? Warum nicht einen leichten Gegenstand, mit dem man dann etwas anstellen, etwas tun könnte? Warum ein Metallklotz, der einen mit unerträglicher Schwere hinunter auf den Boden zieht? Die zweite Mutprobe heißt Wodka: wir trinken die Gläser in einem Zug aus; mit Ausnahme der Frau im Raum, sie bekommt kein Glas. Nicht gefragt, was Männlichkeit ist, habe ich mich bei den Gesprächen mit den jungen Studierenden, den Schauspielern und Zuschauern, der Regisseurin, die die szenische Lesung atmosphärisch dicht in einem finsteren Kellergewölbe eingerichtet hat. Müde schlafe ich abends ein und stehe früh wieder auf; man bringt mich zum Flughafen, wo ich über Moskau nach Krasnojarsk fliege.
Krasnojarsk
Wenn wir fliegen, fliegen wir über Moskau. Immer. Alles läuft über Moskau. Russland, so sagt man uns, sei sehr zentralistisch. Kriegt Omsk, kriegt Tscheljabinsk, kriegt Nischni Nowgorod einen Stadtpräsidenten, so kommt der aus Moskau. Er muss nicht ursprünglich aus Moskau sein, er kann aus St. Petersburg oder von woanders sein; aber kommen tut er dennoch aus Moskau, weil alles über Moskau läuft. Dort wird entschieden. Heißt: Die Menschen in Nischni Nowgorod wählen nicht einen Mann oder eine Frau aus Nischni Nowgorod als Oberhaupt ihrer Stadt. Das Oberhaupt einer Stadt kommt aus Moskau. Wenn ich also aus St. Petersburg komme und in Moskau wird bestimmt, dass ich Stadtpräsident in Nischni Nowgorod werde, dann kann ich natürlich mit viel Elan und Idealismus alles daran setzen, damit Nischni Nowgorod ein besserer Ort wird. Ein Ort mit mehr sozialer Gerechtigkeit und mehr Arbeitsplätzen. Ein Ort mit einer funktionierenden Infrastruktur und wenig Korruption. Das kann ich natürlich tun. Ich kann es auch dann tun, wenn ich genau weiß, dass ich in ein paar Jahren schon nicht mehr in Nischni Nowgorod sein werde. Das kann ich machen, und es ist natürlich gut, wenn ich das mache. Gut für Nischni Nowgorod. Ich kann aber auch denken: bald bin ich wieder weg. Bald bin ich wieder woanders oder zu Hause. In St. Petersburg zum Beispiel. Oder in Moskau. Wohin sollen also die Gelder fließen? Die Gelder könnten in Nischni fließen, zum Beispiel, und dann bleiben sie da, wo Nischni ist. Die Gelder können aber auch in meine Taschen fließen, und meine Taschen kommen nach meiner Amtszeit dann mit. Zum Beispiel nach St. Petersburg. Oder nach Moskau. Toll sei es, wenn es Menschen gäbe, die den ersten Weg gingen. Unendlich schade sei es, wenn der Zentralismus dem zweiten Vorschub leiste.
Zentralismus heißt für mich: Es gibt keinen Flug von Tscheljabinsk nach Krasnojarsk. Ich fliege von Tscheljabinsk zurück nach Moskau und von da nach Krasnojarsk. Ich fliege von einer Stadt nördlich von Kasachstan zurück nach Moskau, um von dort in eine Stadt im Norden der Mongolei zu fliegen.
Beim Flug von Moskau nach Krasnojarsk wird es schnell dunkel. Der Tag dauert weniger lang als sonst, weil wir der Nacht entgegen fliegen. Von Flügen in Europa bin ich es gewohnt, dass ich unter mir Lichter sehe. Eine Stadt schließt an die nächste an und in einigen Regionen, im Ruhrpott etwa, fließen die Städte ineinander über, verbinden sich zu einem unterschiedlich hellen, unterschiedlich dichten Lichtermeer. Hier aber ist es anders, ganz anders. Ich fliege über die sibirische Steppe und unter mir ist es dunkel. Manchmal ist es minutenlang dunkel, zehn Minuten, fünfzehn Minuten, zwanzig Minuten kein einziges Licht ist zu sehen. Ich frage mich, mit welcher Geschwindigkeit wir fliegen, und wie viele Kilometer wir zurücklegen, von einem Ort mit wenigen, kaum sichtbaren Lichtpunkten zu den nächsten verstreuten Lichtern. Im Fliegen über die finstere Steppe bekomme ich eine leise Vorstellung vom ungeheuren Raum, der sich unter mir auftut. Das ist nicht eine große Wiese, das ist nicht ein Tal, eine Ebene oder ein größeres Gebiet, die unbewohnt sind: Das sind ganze Regionen, die offenbar unbewohnt sind. Und ich frage mich, was dieser Raum, was die Erfahrung dieses Raums macht mit den Menschen. Die Erfahrung dieser Räume und dieser Distanzen, ich frage mich, was sie bewirken kann. Stellt sie etwas an mit den Menschen, die ihr ausgesetzt sind? Schürt sie ein Grundgefühl der Vergeblichkeit allen Strebens? Fördert sie einen Hang zu Fatalismus? Und wenn der Wille will und leicht ist und fliegt, wäre die Erfahrung dieser riesigen Räume dann beschwerlich, ja schwer? Muss von der Schwere reden, wer vom leeren Raum reden will?